Die Clans von Stratos
kunstvoll verzierte Tür aufzuhebeln. Auch damals, vor langer Zeit, hatte Maia gehört, wie Holz und Metall gegen Stein rieben und schabten.
»Jetzt bin ich dran«, hatte Leie gesagt, vor einem Jahr, das Maia wie eine halbe Ewigkeit erschien, tief unter den Kellern der Lamatia-Feste. »Deine Methode hat nicht funktioniert, jetzt versuchen wir’s auf meine Weise.«
Maia erinnerte sich an die beiden Schlangen. Die Reihen mit geheimnisvollen Symbolen. Ein sternförmiger Stein, der sich im Uhrzeigersinn bewegen lassen mußte, wenn das Rätsel überhaupt einen Sinn ergab…
Schritte waren zu hören. In der Wirklichkeit. Ein Schatten verdunkelte die Sonne. Maia hob den Arm und sah eine schlanke Gestalt, die ein Viertel des Himmels über ihr verdeckte. »Ich hab da oben in den Ruinen etwas gefunden«, sagte eine schrille, junge Stimme. Sie hätte einem Mädchen gehören können, aber sie brach gelegentlich und wurde unvermittelt eine Oktave tiefer. »Komm mit, Maia, so etwas habe ich noch nie gesehen.«
Maia setzte sich auf und beschattete mit der Hand die Augen. Ein schlaksiger Knabe stand vor ihr. ›Der Streich der Seeräuber‹, hatte ihn Naroin getauft, aber Brod war eigentlich ein netter Kerl. Er war fast so alt wie Maia, aber Jungen, die frisch vom Mutterclan kommen, waren kindisch, so gut wie ungeformt. Und dieser Knabe hätte gar nicht hier sein dürfen.
Offiziell war Brod eine Geisel, die die Seeräuberinnen genommen hatten, um die Kooperation der Matrosen auf der Draufgänger, dem Schiff, das sie angeheuert hatten, sicherzustellen. Aber Naroin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Der junge Offiziersanwärter war nur als Witz hiergelassen worden, als Ausdruck eines reichlich verschrobenen Humors. »Freu dich auf den nächsten Glorienfrost!« hatte eine Piratin mit rotem Kopftuch ihn geneckt, als die Winde sich das letzte Mal in Bewegung setzte und die ›wenig gefährlichen‹ Gefangenen auf dem einsamen Eiland allein waren.
Langsam erhob sich Maia und seufzte, weil der Junge sich ausgerechnet mit ihr anfreunden wollte, wo sie sich doch nach Einsamkeit sehnte. Andererseits kann ich ein bißchen Bewegung brauchen. Laut sagte sie: »Na, dann mal los!«
Das eifrige Lächeln des Jungen war süß und winterharmlos. Maia hatte jetzt schon Mitleid mit ihm – wenn der nächste Spektralfrost Gras und Bäume bedeckte, würden die rauhen Matrosinnen ihre Frustration bestimmt an ihm auslassen. Und selbst wenn sich zeigte, daß er ihnen gewachsen war, würde die Spannung dennoch nicht nachlassen, denn es waren keine Ovop-Blätter bei ihrer Verpflegung.
»Hier lang, komm!« rief Brod ungeduldig, während er ihr voraus zu den Bäumen eilte. Maia holte tief Luft, seufzte noch einmal und folgte ihm.
Der steile Vorsprung der Insel war einst besiedelt gewesen. Das war den Gefangenen gleich bei ihrer Ankunft klargeworden, sobald sich das schwarze Gehäuse der Winde mit einem elektronischen Summen und Klicken schloß und sie das Plateau zum ersten Mal betraten. Schon bald waren sie auf zerfallene, rankenüberwucherte Ruinen gestoßen, Überreste uralter Mauern. Unterhalb des bewaldeten Gipfelbereichs sah man die Umrisse einstmals weitläufiger Gebäude.
Brod hatte sich daran gemacht, das Innere der Mauern weiter auszukundschaften, vor allem seit Maia und Naroin bei der Floß-Abstimmung verloren hatten. Er hatte versucht, seine Stimme zu ihren Gunsten abzugeben, aber schnell zu spüren bekommen, daß die Meinung eines Knaben unerwünscht war. Die weiblichen Crewmitglieder glaubten genug über die Schiffahrt zu wissen, um auf den Rat eines in der Stadt aufgewachsenen Offiziersanwärters verzichten zu können. Damals hatte Maia das Verhalten der Frauen unnötig beleidigend empfunden.
»Es ist ein Stückchen in dieser Richtung, im Dickicht«, erklärte Brod, während er sich mit Hilfe eines Stocks durchs Unterholz kämpfte. »Ich wollte das Zentrum dieser Verheerung finden. Meinst du, es ist auf einen Schlag passiert oder die Siedlung wurde allmählich verlassen, bis die Natur dann wieder die Herrschaft übernommen hat?«
Maia, die direkt hinter ihm ging, lächelte leise. Als sie dem Jungen zum ersten Mal begegnet war, hatte er sich als ›Brod Starkland‹ vorgestellt und ganz selbstverständlich den Namen seines Mutterclans angefügt. Naroin kannte den Clan; er war einer der angesehensten in Enheduanna bei Ursulaborg. Aber es war ein kindischer Lapsus, wenn einem so etwas herausrutschte. Der Junge würde ganz schnell
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