Die Clans von Stratos
Beiboot zur Insel gerudert wurde. Während sie mit der knarrenden Winde auf die Insel gehievt worden war, hatte sie zufällig eine Seite aufgeschlagen.
Wurd ich gerufen? Was hat dein großes Herz
gedacht? Wer soll sie sein,
gekauft mit Leidenschaft? O Sappho, ohne Scherz
nenn mir den Feind!
Denn die dich flieht, wird bald verfolgen dich
Die deine Gaben schmäht, wird bald selbst geben;
Und die dich noch nicht liebt in diesem Leben
wird dich bald lieben ewiglich!
Das Buch war ein Geschenk von Leie, das war Maia sofort klar gewesen. Sie hatte schon immer einen Sinn für Worte gehabt, während Maia sich mehr zu visuellen Dingen hingezogen fühlte – zu abstrakten Mustern und Puzzles. Vielleicht war es als Friedensangebot gedacht oder als Versprechen, vielleicht war es aber auch einfach eine spontane Idee, die nicht mehr bedeutete als ein freundschaftlicher Klaps auf die Schulter.
Maia sah sich noch ein paar weitere Gedichte an und versuchte, sich auf sie einzulassen. Doch so nett das Geschenk auch gemeint sein mochte – der eklig-süße Nachgeschmack der Droge, die sie bewußtlos gemacht hatte, verdarb alles. Vielleicht hatte Leie in ihren eigenen Augen einleuchtende Gründe für ihr Verhalten, aber in Maias Herzen vermischte es sich mit Tizbe Bellers Überfall, mit dem pragmatischen Verrat von Kiel und Thalia und dem scheußlichen Treuebruch von Baltha und ihren Genossinnen. Wenn Maia sich diese Liste von Gemeinheiten vor Augen führte, hätte sie verzweifeln können. Also verbannte sie sie lieber aus ihren Gedanken.
Statt dessen begann sie wieder, das Buch durchzublättern. Es war aus einem glatten, synthetischen Material hergestellt, damit es auf einer langen Seereise nicht von der Feuchtigkeit beschädigt werden konnte. Aber schon bald fand Maia eine andere Verwendung für den Einband. Sie klappte ihn auf, strich ihn glatt, beschwerte die Ecken mit Steinen und bekam so eine flache Oberfläche, auf die sie mit dünnen Strichen ein Gittermuster zeichnete. In die Kästchen malte sie mit einem Stück Holzkohle, das sie aus dem Feuer geholt hatte, kleine schwarze Punkte, dazwischen ließ sie immer eine bestimmte Anzahl weißer Kästchen frei. Dann benetzte sie einen Lappen mit Spucke, wischte das alte Muster weg und zeichnete ein neues.
Es ist mehr als nur eine Frage von Formen, dachte sie und versuchte sich an die Erkenntnisse zu erinnern, die ihr noch am Abend zuvor am Lagerfeuer so einfach erschienen waren.
Es gibt eine andere Ebene, als nur darüber nachzudenken, wie eine bestimmte Gruppe von Punkten sich verändert und sich über das Spielbrett bewegt. Es gibt irgendeinen Zusammenhang zwischen der Anzahl lebender Punkte pro Bereich – der Dichte – und der Regel, die man hinsichtlich der direkten Nachbarn anwendet. Wenn man die Anzahl der Nachbarn verändert, die zum Überleben notwendig sind, verändert man damit auch…
Es war anstrengend. Manchmal tanzten die Ideen wie Seifenblasen an den Grenzen ihres Blickfelds, ihres Gedankenhorizonts. Ihr mangelhafter Wortschatz erwies sich als äußerst hinderlich. Die Gedanken, mit denen sie kämpfte, brauchten eine andere Terminologie als die simple Algebra, die man ihr widerwillig in der Lamai-Feste beigebracht hatte. Sie wurde immer wütender, daß man sie ausgerechnet dort im Stich gelassen hatte, wo allem Anschein nach ihr besonderes Talent lag, daß man sie von der Mathematik und anderen Abstraktionen ferngehalten hatte, indem man ihr vorgegaukelt hatte, es sei langweilig.
Es wird noch viel viel schöner, wenn man auch weiter entfernte Nachbarn einbezieht, dachte sie und versuchte sich wieder zu konzentrieren. Im Kopf zu experimentieren, war schwierig, vor allem, wenn man längere Zeit den Überblick behalten wollte. Immerhin war es ihr gelungen, sich für eine Weile ein dreidimensionales Spielset vorzustellen, mit einem Gittermuster von faszinierender, komplexer Pracht – nicht nur vorwärtsmarschierende Kristallreihen, sondern Formen, die sich zu verschlungenen, rauchigen Mustern kräuselten. Zu schade, daß sie sich nicht länger als wenige Momente visualisieren ließen.
Maia klappte das Buch zu und ließ sich auf ihr Lager zurücksinken. Sie legte den Arm über die Augen und ließ sich zwischen abstrakten Überlegungen und Hoffnungslosigkeit dahintreiben. Neben ihr schabte Naroin mit ihrem Stein immer noch auf dem Holz herum, und das Geräusch rief plötzlich eine Erinnerung wach. An Leie, die angestrengt stöhnend versuchte, eine große,
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