Die Clans von Stratos
so viele. Damals hatte sie an dem schmalen Fenster ihres Gefängnisses in Long Valley gestanden. Sie hatte geglaubt, Leie sei tot, sie hatte Renna noch nicht gekannt und sich furchtbar allein gefühlt. Eigentlich müßte sie jetzt weniger traurig sein. Leie lebte und hatte ihr geschworen zurückzukehren. Zwar machte sich Maia ständig Sorgen um Renna, aber es war höchst unwahrscheinlich, daß die Seeräuber ihm etwas antaten, und noch war eine Rettung nicht ausgeschlossen. In Naroin und Brod hatte Maia sogar Freunde gefunden.
Warum fühle ich mich dann schlechter denn je?
Wie elend man sich fühlte, war immer relativ, das wußte sie. Und gegenwärtiger Schmerz ist immer schlimmer als vergangener. Leie hatte zwar dafür gesorgt, daß ihre Schwester die erträglichere Variante der Gefangenschaft über sich ergehen lassen mußte, aber das linderte nicht die Bitterkeit, die Maia überkam, wenn sie an das dachte, was Leie getan hatte, es verringerte nicht ihre Angst um Renna und auch nicht das Gefühl ihrer Hilflosigkeit.
»Sieh mal!« rief Brod und deutete nach Westen, von wo die Gleiterwanderung ausging. Die Frauen legten die Hand über die Augen und hielten den Atem an.
Mitten im Geschwader schwebten friedlich drei prächtige, zylindrische Riesentiere, wie Wale zwischen einer Horde Quallen.
»Pontoos!« hauchte Maia. Die zigarrenförmigen Wesen wurden mehrere hundert Meter lang und ähnelten eher dem phantastischen Zeppelin auf der Hülle von Maias Sextanten als den sie umgebenden Gleitern – oder auch den kleinen Luftschiffen, die man zur Postzustellung verwendete. Ihre Flanken schimmerten wie glitzernde Fischschuppen, und sie zogen lange, dünne Anhängsel hinter sich her, die in unregelmäßigen Abständen ins Meer tauchten, etwas Eßbares herausfischten oder Wasser schöpften, um es mit Hilfe des Sonnenlichts in Wasser- und Sauerstoff zu zerlegen.
Obwohl von Staat und Kirche Gesetze zum Schutz der Giganten erlassen worden waren, verschwanden die majestätische Kreaturen allmählich von der Oberfläche des Planeten. Nur sehr selten bekam man in der Nähe besiedelter Gegenden einen von ihnen zu Gesicht. Was ich alles schon gesehen habe, dachte Maia und bemerkte plötzlich, welche guten Seiten ihre Abenteuer hatten. Wenn ich je Enkel bekommen würde, was könnte ich ihnen alles erzählen!
Dann dachte sie an Rennas Geschichten von anderen Welten, von seltsamen Dingen, die ihre Vorstellungskraft überstiegen. Das Verlustgefühl und der Neid taten ihr weh. Bevor sie den Erdenmann kennengelernt hatte, war Maia nie auf die Idee gekommen, die Sterne zu begehren. Jetzt tat sie es und wußte doch, daß sie sie nie bekommen würde.
»Mir ist gerade etwas eingefallen…«, meinte Brod nachdenklich. »Etwas, das ich einmal über die Gleiter gelesen habe. Weißt du, daß der Geruch von verbranntem Zucker sie anlockt? Wir haben welchen, den wir aufs Feuer streuen könnten.«
Die Frauen drehten sich zu ihm um. »Und?« meinte Naroin spöttisch. »Willst du die vielleicht zum Abendessen einladen?«
Er zuckte die Achseln. »Eigentlich habe ich gedacht, von hier weg zu fliegen wäre besser, als es mit einem Boot auf dem Wasser zu versuchen. Jedenfalls ist es eine Überlegung wert, finde ich.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann begannen die Frauen auf beiden Seiten zu lachen oder über Brods einfältige Idee zu stöhnen. Betrübt mußte Maia ihnen recht geben. Von den Jungen, die jedes Jahr versuchten, auf einem Gleiter zu reiten, wurden nur wenige wiedergefunden. Trotzdem hatte die Vorstellung einen gewissen märchenhaften Charme, und sie hätte ernsthaft darüber nachgedacht, hätte der vorherrschende Wind sie in einen sicheren Hafen geblasen… oder wenigstens zum Land. Offenbar war Brod wirklich sehr klug, aber jeder Sinn fürs Praktische ging ihm ab.
Als Maia sein sehnsüchtiges Gesicht und sein verlegenes Erröten sah, legte sich ihr Verdacht endgültig, er könnte vielleicht ein Spion sein, den die Seeräuber zur Bewachung der Gefangenen hiergelassen hatten. Nach den Ereignissen der letzten Monate war sie mißtrauisch geworden. Aber niemand konnte einen plötzlichen Wechsel von Wehmut zu Verlegenheit so perfekt vortäuschen. Brods Gedanken waren ihren eigenen ähnlicher als die des alten Bennett. Wenn sie genauer nachdachte, sogar ähnlicher als die der meisten Frauen, die sie kannte. Zwar war er weit weniger romantisch und geheimnisvoll als ihr Herzfreund, der Fremdling aus dem Weltraum, aber das war auch in
Weitere Kostenlose Bücher