Die Clans von Stratos
vergangene Ära – Geschichte gehörte nicht zum praktisch ausgerichteten Lehrplan der Lamai –, aber die Statue war ein wahrhaft bewegender Anblick.
Dann kamen die berühmten fünf Hügel von Lanargh in Sicht, einer nach dem anderen, mit hellen Steinstufen, Clanfesten und Gärten, die sich kilometerweit an der Küste bis hinein in die grünen Berghänge zogen. Die Zwillinge hatten immer gedacht, Port Sanger wäre eine große, kosmopolitische Stadt, da sein Handel einen weiten Teil der Parthenia-See beherrschte. Doch hier, an einer Achse des riesigen Ozeans, begriff Maia, warum der Name ›Tor zum Osten‹ mehr als berechtigt war.
Nachdem sie an dem ihnen von der Hafenmeisterin zugewiesenen Kai festgemacht hatten, sah die Besatzung dem Kapitän nach, der sich mit den Bizmai-Frachteigentümerinnen auf den Weg machte, um potentielle Kunden zu treffen. Dann wurde Landurlaub ausgerufen, und die Besatzung strömte jubelnd von Bord. Maia fand Leie, die am Fuß das Kais auf sie wartete. »Ich hab dich schon wieder geschlagen!« lachte Maias Zwillingsschwester, obwohl sie genau wußte, daß Maia sich nicht im geringsten darum scherte.
»Komm schon«, entgegnete Maia grinsend. »Sehen wir uns ein bißchen um.«
Über fünfhundert matriarchalische Clans wohnten in der Stadt. Auf den weitläufigen Plätzen und belebten Marktstraßen wimmelte es von gut gekleideten, kunstvoll frisierten, prächtig uniformierten Klonfrauen, die ihre Lasten entweder von gut gepflegten Lastkarren oder auf dem Rücken geduldiger Lugars in livrierten Tuniken befördern ließen. Üppige Düfte fremdländischer Früchte und Gewürze erfüllten die Luft, und die Zwillinge entdeckten Kreaturen, über die sie bisher nur gelesen hatten: rote Heulaffen und flügelschlagende Teichdrachen, die auf den Schultern ihrer Eigentümer ritten, Passanten anzischten und unaufmerksamen Verkäuferinnen Trauben stibitzten.
Die beiden Schwestern schlenderten über Marktplätze und durch schmale Einkaufsgassen, aßen Süßigkeiten von einem Stand mit Konditoreiwaren, lachten über die Faxen einer kleinen Gruppe von Jongleurinnen, wichen den Tiraden einer politischen Kandidatin aus und staunten über die weite, wunderbare Welt. Niemals zuvor war Maia so vielen unbekannten Gesichtern begegnet. Obgleich Port Sanger mehrere tausend Einwohner hatte, hatte sie nie mehr als hundert verschiedene Gesichter auseinanderhalten müssen.
Hier bekamen sie einen Vorgeschmack davon, wie das Leben werden konnte, wenn ihr geheimer Plan funktionierte. Obgleich sie bescheiden gekleidet waren, traten einige Vars, denen sie begegneten, respektvoll zurück und machten ihnen den Weg frei, ganz so, als wären die Zwillinge Wintergeborene. »Ich wußte es!« flüsterte Leie. »Zwillinge sind so selten, daß die Leute sofort den falschen Schluß ziehen. Unser Plan könnte Erfolg haben!«
Maia wußte Leies Begeisterung zu schätzen. Andererseits war ihr klar, daß der Erfolg von unzähligen Kleinigkeiten abhing. Deshalb drängte sie darauf, die freie Zeit nicht mit Spielereien zu verplempern, sondern den Hafen nach nützlichen Informationen zu durchkämmen.
Unglücklicherweise drang hauptsächlich ein Gewirr fremder Sprachen an ihr Ohr. Wenn sich Klonschwestern auf der Straße begegneten, begrüßten sie sich meist in einem krächzenden, unverständlichen Familiendialekt, der seit Generationen von den Stammüttern an ihre Töchter weitergereicht und von diesen verfeinert worden war. Zuerst war Leie frustriert. In der ruhigen Atmosphäre von Port Sanger war die Allgemeinsprache die Norm gewesen.
Doch dann begann sie sich plötzlich dafür zu begeistern. »Wir brauchen auch einen Geheimjargon, wenn wir unseren eigenen Clan gründen.«
Maia erinnerte ihre Schwester nicht daran, daß sie als kleine Mädchen bereits mit Codes, Kryptogrammen und Privatsprachen experimentiert hatten, bis Leie irgendwann die Geduld verloren hatte. Für sich hatte Maia nie aufgehört, Anagramme zu bilden oder in verstreut auf dem Krippenboden herumliegenden Buchstabengruppen Muster zu entdecken. Möglicherweise war es die gleiche Leidenschaft, die ihr Interesse an den Konstellationen geweckt hatte. Die glitzernden Sternbilder kamen ihr immer vor wie ein Privatcode der Schöpferin, jedem zugänglich, der bereit war, ihn zu lernen.
Als sie über den großen Platz vor Lanarghs Stadttempel schlenderten, entdeckten die Zwillinge eine Gruppe kniender Matrosen, die den Segen einer orthodoxen Priesterin in
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