Die Clans von Stratos
weinrot-gestreiften Gewändern entgegennahmen. Mit erhobenen Armen rief die Priesterin den Geist des Planeten an, Fels und Luft, Wind und Wasser, damit die Männer am Ende ihrer Fahrt sicher im Hafen landeten. Der Sprechgesang endete mit einer beliebten Passage über die Heiligkeit der Kameradschaft in gemeinsam durchlittener Gefahr. Doch der Vortrag der heiligen Frau zeigte, daß auch Kirchenfrauen eine eigene »Sprache« hatten, vor allem, wenn sie aus dem rätselhaften Vierten Buch der Schrift zitierten.
»Sowann ihr Schiff in Zeiternot so rufetan Wasverborgen ist…«
Kein Wunder, daß das Vierte Buch allgemein als das Rätsel von Lysos bekannt war. Es hatte sogar sein eigenes Alphabet mit achtzehn Buchstaben – eine angenehme Abwechslung für Maia, die sich während des langen wöchentlichen Gottesdienstes in der Lamatia-Kapelle die Zeit damit vertrieb, daß sie sich über die in die Steinmauer eingeritzten kryptischen Worte Gedanken machte.
Leie warf einen Blick auf die Tempeluhr und seufzte. »Uups, tut mir leid. Ich muß wieder an die Arbeit.«
Maia blinzelte erstaunt. »Was? Gleich am ersten Tag?«
»Das ist doch mal wieder echtes Varglück, was? Scheuerdienst mit Mop und Eimer. Unser Chef will, daß die alte Zeus mehr Kunden bekommt als eure Wotan, auch wenn letztlich alles den gleichen Eigentümerinnen und der gleichen Gilde zufällt.« Sie zog eine Grimasse. »Sind eure Bootsmänner auch so schrecklich?«
So hätte Maia sie nicht beschrieben. ›Unerbittlich‹ wäre ihr als erstes eingefallen. Und daß sie es sofort merkten, wenn jemand unkonzentriert war. Aber sie lernte eine Menge von Naroin und den anderen und wurde jeden Tag stärker. Und sowieso – Leie schwindelte, soviel war klar. Maia wäre jede Wette eingegangen, daß ihre Schwester Strafdienst hatte, wahrscheinlich, weil sie gemault hatte, als sie lieber den Mund hätte halten sollen.
Trotzdem meinte Maia mitfühlend: »Tja, Kohlenschaufeln als Lebensunterhalt. Hmm. Bestimmt wären unsere Mütter stolz auf uns, daß wir ganz unten anfangen.«
»Aber nicht mehr lange!« entgegnete Leie. »Eines Tages segeln wir zurück nach Port Sanger, und zwar mit so vielen Geldstäben in der Tasche, daß wir es aufkaufen können!« Sie lachte, und ihre Fröhlichkeit zwang auch Maia zu einem Lächeln.
Es war ein ganz anderes Gefühl, allein durch die Stadt zu gehen, und das nicht nur, weil niemand mehr ihretwegen Platz machte. Maia hatte Spaß daran gehabt, Leie auf Dinge aufmerksam zu machen und die Sehenswürdigkeiten mit ihr gemeinsam zu bewundern. Außerdem war es tröstlich gewesen zu wissen, daß wenigstens eine Person in diesem Meer von Fremden eine Verbündete war.
Andererseits kamen ihr die Eindrücke jetzt viel intensiver, die Stadt jetzt viel bunter vor. Ihre Wahrnehmung wurde plötzlich schärfer, und sie nahm vor allem auch die Kehrseite des fröhlichen Stadtlebens stärker zur Kenntnis. Schwitzende Vararbeiterinnen, die auf quietschenden Karren Lasten zogen. Bettlerinnen, oftmals verkrüppelt, klapperten mit Almosenbechern, auf denen wächserne Kirchensiegel prangten. Verschlagen aussehende Frauen, die an Häuserecken lungerten und Maia taxierten, als überlegten sie, wie leicht ihre Geldbörse zu erreichen war…
Es war richtig, daß wir getrennte Schiffe genommen haben, dachte Maia. Sie fühlte sich gleichzeitig wachsam und sehr lebendig. Genau das haben wir gebraucht. Ich habe es gebraucht.
Sie entdeckte Schilder, die sie nie zuvor gesehen hatte, mit Clannamen, die sie nicht kannte, und Warenangeboten, von denen sie nie gehört hatte. Manche Läden wurden von einem Dutzend winziger Unternehmen genutzt, von denen jedes sein eigenes prätentiöses handgemaltes Wappenzeichen aufwies. Die Frauen, die diese Geschäfte führten, hatten sich wegen der Miete zusammengetan, aber jede hoffte für sich, irgendwann den Aufstieg auf die Erfolgsleiter zu schaffen. Das städtische Krankenhaus andererseits machte einen modernen, farblosen Eindruck, und die Gesundheitsexperten in ihren weißen Kitteln brauchten nicht mit ihren familiären Beziehungen für sich zu werben.
Plötzlich erscholl ein Posaunenstoß und lautes Beckenschlagen, und die Menschenmassen teilten sich, um Platz zu machen. Einige lachten über die kleine Parade, die da den Hügel herabmarschierte: Die männlichen Mitglieder eines Geheimbundes defilierten in pompöser Aufmachung mit ihren geheimnisvollen Totemzeichen durch die kopfsteingepflasterten Straßen, unter dem
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