Die Company
noch an die Gartenparty in Peredelkino – ein alter Mann presste ihm eine Flasche voller Bienen auf den nackten Rücken, als Genosse Beria mich ihm vorstellte. Du musst sehr traurig sein …«
»Das ist das Problem. Ich bin überhaupt nicht traurig, zumindest nicht über den Tod meines Vaters. Ich habe ihn kaum gekannt. Und er war kalt wie ein Fisch …«
»Na, wenigstens ist er alt geworden. Meine Eltern sind nach dem Krieg gestorben.«
»Ja. Ich erinnere mich, du hast mir erzählt, dass sie verschwunden sind –«
»Sie sind nicht verschwunden, Jewgeni. Sie wurden ermordet.«
»In seinen letzten Jahren ist Stalin von der sozialistischen Norm abgewichen –«
»Abgewichen! Hast du den Kopf in den Sand gesteckt? Anfang der Dreißigerjahre hat er Bauern ermorden lassen, und Mitte bis Ende der Dreißigerjahre seine Parteigenossen. Während des Krieges hat er eine Pause eingelegt und anschließend gleich wieder weitergemacht. Dann kamen die Juden an die Reihe –«
»Es war nicht meine Absicht, mit dir über Politik zu diskutieren, Asa.«
»Was war denn deine Absicht, Jewgeni? Weißt du das überhaupt?«
»Ich wollte nur … ich dachte …« Er schwieg einen Moment. »Um ehrlich zu sein, ich habe mich erinnert –«
»Woran?«
»An die kleine Lücke zwischen deinen Vorderzähnen. Und daran, wie sehr meine Lust und dein Verlangen harmoniert haben.«
»Es ist taktlos, das Thema anzuschneiden –«
»Ich wollte dich nicht kränken …«
»Du bist wirklich eine frühere Inkarnation, Jewgeni. Ich bin nicht mehr der Mensch, den du damals kennen gelernt hast. Ich bin nicht mehr unschuldig.« Hastig schob sie nach: »Natürlich nicht im sexuellen Sinne. Ich meine politisch.«
»Ich wünschte, die Umstände wären anders gewesen –«
»Das glaube ich dir nicht.«
Eine Frau, die vor der Telefonzelle wartete, klopfte ungeduldig mit einem Finger auf ihre Armbanduhr.
»Bitte glaub mir, ich wünsche dir alles Gute. Leb wohl, Asalia Isanowa.«
»Ich weiß nicht, ob ich froh über deinen Anruf bin. Ich wünschte, du hättest die Erinnerungen ruhen lassen. Leb wohl, Jewgeni Alexandrawitsch.«
Stariks Augen nahmen einen finsteren Ausdruck an. »Ich sage es euch zum allerletzten Mal«, schalt er seine beiden Nichten. »Hört auf zu grinsen, Mädchen.«
Die Nichten erlebten Onkel ungewöhnlich schlecht gelaunt; sie wussten zwar nicht, womit er sein Geld verdiente, aber es war unübersehbar, dass er sich wegen seiner Arbeit Sorgen machte. Er schaltete die Jupiterlampen ein und richtete die Reflektoren so aus, dass das Scheinwerferlicht auf die Körper der engelhaften Geschöpfe fiel, die für ihn posierten. Er ging zu dem Stativ und spähte auf die Mattscheibe der Kamera. »Revolución, zum letzten Mal, leg den Arm um Axinjas Schulter und lehn dich gegen sie, damit eure Köpfe sich berühren. Genau so. Gut.«
Die beiden Mädchen starrten in die Kamera. »Nun knips endlich, Onkel«, flehte Axinja. »Mir ist kalt.«
»Ja, mach schon, ich hole mir sonst noch den Tod«, kicherte Revolución.
»So was braucht Zeit, Mädchen«, erwiderte Starik. »Ich muss die Schärfe genau einstellen und dann noch einmal die Belichtung überprüfen.« Er beugte den Kopf und sah sich das Bild auf der Mattscheibe genau an; die Jupiterlampen hatten den nackten Körpern den rosa Farbton genommen, und nur noch die Augenhöhlen und Nasenlöcher und die knospenhaften Brustwarzen der Mädchen waren sichtbar. Er maß noch einmal die Belichtung, stellte sie an der Kamera ein, trat dann zur Seite und betrachtete die Mädchen genau. Sie blickten ins Objektiv, waren sich ihrer Nacktheit quälend bewusst. Er wollte etwas Körperloses erschaffen, etwas, das sich nicht mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbinden ließ. Er wusste, wie er sie ablenken konnte.
»Mädchen, stellt euch vor, ihr seid die unschuldige kleine Alice, die sich im Wunderland verirrt hat – versetzt euch einen Moment lang in ihre Zauberwelt.«
»Wie ist es denn wirklich im Wunderland?«, fragte Axinja schüchtern.
»Ist es im sozialistischen Lager wie im Wunderland, Onkel?«, wollte Revolución wissen. »Ist es ein Arbeiterparadies?«
»Es ist ein Paradies für kleine Mädchen«, flüsterte Starik. Er konnte sehen, wie die Gesichter der beiden Nichten einen entrückten Ausdruck annahmen, als sie sich in die wunderliche Welt versetzten, in der jeden Augenblick das Weiße Kaninchen auftauchen konnte. Zufrieden drückte Starik den Auslöser. Er öffnete die
Weitere Kostenlose Bücher