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Die Company

Die Company

Titel: Die Company Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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ihrem materiellen Wohlstand zu beurteilen. Das erklärt, warum sie sich ständig mit irgendwelchen Trophäen schmücken – dicke, neue Autos, Diamantschmuck, Rolex-Uhren, jüngere zweite Ehefrauen, Sonnenbräune im Winter, Designer-Kleidung, Psychoanalytiker.«
    »Und was sind ihre besseren Eigenschaften, Jewgeni?«
    »Amerikaner sind intelligent und offen und einfallsreich und arglos. Weil sie so offen sind und andere unbefangen akzeptieren, machen sie einem Spion die Arbeit verhältnismäßig leicht. Ihre Arglosigkeit ist eine Art psychische Blindheit; sie werden dazu erzogen, ihr System für das Beste auf der Welt zu halten, und sie sind außerstande, die negativen Seiten zu sehen – sie sehen nicht die fünfundzwanzig Millionen Landsleute, die jeden Abend hungrig zu Bett gehen, sie sehen nicht, wie die Schwarzen in den Ghettos leben, sie sehen nicht, wie die Arbeiterklasse für die Profite einer Minderheit, die die Produktionsmittel besitzt, ausgebeutet wird.«
    Von draußen drang das Gequietsche von kleinen Mädchen herauf, die ins Planschbecken sprangen. Starik schlenderte zum Fenster und blickte hinunter in den Garten. »Nach dem, was du erzählst, scheinen deine Amerikaner eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Hauptfigur der Geschichten zu haben, die ich meinen Nichten vorlese. Auch sie ist intelligent und offen und einfallsreich und arglos.«
    Jewgeni trat zu seinem Mentor ans Fenster. »Wieso fragen Sie mich nach den Amerikanern?«
    »In einem Kampf, wie wir ihn ausfechten, besteht die Neigung, den Feind zu dämonisieren.«
    »Die Amerikaner dämonisieren zweifelsohne die Sowjetunion«, bestätigte Jewgeni.
    »Es ist ein großer Fehler, den Feind auf einen Dämon zu reduzieren«, sagte Starik. »Dadurch ist man deutlich im Nachteil, wenn man ihn überlisten will.«
     
    Moskau hatte sich sehr verändert. Von dem kleinen Balkon der Wohnung hoch oben in den Lenin-Hügeln ließ Jewgeni den Blick über die Stadt schweifen, die sich unter ihm ausbreitete. Die Innenstadt, einst berühmt für ihre eintönige Stalin-Gotik, war mit modernen Hochhäusern durchsetzt, neben denen die zwiebelförmigen Kuppeln verlassener Kirchen winzig wirkten. Von den breiten Straßen drang das ununterbrochene Dröhnen des Verkehrs.
    Jewgenis Besuch bei seinem Vater im Krankenhaus war besser verlaufen, als er befürchtet hatte. Sein jüngerer Bruder Grinka war mit seiner zweiten Frau ebenfalls da gewesen; Grinka, ein Parteiapparatschik, war vom KGB extra angewiesen worden, Jewgenis dreiundzwanzigjährige Abwesenheit nicht anzusprechen, und so gaben die beiden Brüder einander die Hand, als hätten sie sich erst vor einer Woche gesehen. »Du siehst gut aus«, sagte Grinka. »Das ist meine Frau Kapitolina Petrowna.«
    »Hast du Kinder?«, fragte Jewgeni, als sie gemeinsam über einen nach Kohl riechenden Korridor zum Zimmer ihres Vaters gingen.
    »Zwei aus meiner ersten Ehe. Mädchen, Gott sei Dank. Die Ältere heißt Agrippina, nach unserer Mutter.« Grinka fasste Jewgeni am Arm. »Vater liegt im Sterben.«
    Jewgeni nickte.
    »Ich habe Anweisung, dich nicht zu fragen, wo du all die Jahre gesteckt hast. Aber du sollst wissen, dass es für mich eine große Belastung war, mich allein um ihn kümmern zu müssen.« Grinka senkte die Stimme. »Worauf ich hinauswill, ist, dass Vaters Wohnung in den Lenin-Hügeln dem Staat gehört. Die Datscha in Peredelkino gehört allerdings ihm. Und sie lässt sich schlecht zwischen zwei Familien aufteilen.«
    »Mach dir deshalb keine Gedanken«, knurrte Jewgeni. »Ich will sie nicht. Ich bleibe ohnehin nicht lange in Russland.«
    »Schön, Jewgeni, ich habe Kapitolina gesagt, dass du ein vernünftiger Mensch bist.«
    Alexander Timofejewitschs rechtes Auge öffnete sich zuckend, und er versuchte, die Laute, die ihm tief aus der Kehle stiegen, durch die Lippen zu pressen. »Jew … Jew …« Speichel rann ihm aus einem Mundwinkel. Ein Pfleger holte ein Kissen aus dem Schrank und stützte Jewgenis Vater damit den Rücken, so dass er seinen älteren Sohn ansehen konnte.
    Die graue Gesichtshaut des alten Mannes sah aus wie eine Totenmaske. Der Mund stand offen und die Lippen zitterten. Jewgeni nahm eine Hand seines Vaters und streichelte sie. »Wie ich höre, hat Pawel Semjonowitsch dir so einige Geschichten über mich erzählt …«
    Alexander Timofejewitschs knochige Finger gruben sich mit überraschender Kraft in Jewgenis Handfläche. Das einzige Gefühl, das Jewgeni für diesen Wrack empfand, war Mitleid.

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