Die Company
einen neuen Film ein, zog dann ihren Vater am Ärmel Richtung Kremlmauer. An einer anderen Kreuzung hatten sich Soldaten im Kreis um zwei Laster und einen Jeep postiert, die Kalaschnikows im Anschlag. Drei junge Mädchen in kurzen Röcken steckten Rosen in den Lauf von Gewehren, was die Umstehenden bejubelten. Am Kremlturm holte ein Soldat die russische Trikolore an einem Fahnenmast ein und hisste stattdessen die Flagge mit Hammer und Sichel. Einem bärtigen Mann im Rollstuhl liefen bei dem Anblick die Tränen über die Wangen. Ein halbwüchsiger Junge hatte ein Kofferradio auf einen Hydranten gestellt und drehte die Lautstärke auf. »… Soldaten und Offiziere der Armee. Vergesst in dieser schwierigen Stunde der Entscheidung nicht, dass ihr einen Eid geleistet habt und eure Waffen nicht gegen eure Landsleute richten dürft. Die Tage der Verschwörer sind gezählt. Die gewählte Regierung ist im Weißen Haus und voll funktionsfähig. Unser Volk, das so viel gelitten hat, wird erneut die Freiheit finden, für alle Zeit. Soldaten, ich bin überzeugt, dass ihr in dieser tragischen Stunde die richtige Entscheidung treffen werdet. Die Ehre russischer Waffen wird nicht mit dem Blut des Volkes besudelt werden.«
Leo zog seine Tochter zu sich und sagte atemlos: »Jelzin ist nicht nach Swerdlowsk geflüchtet! Das ist eine Rundfunkübertragung aus dem Weißen Haus. Es besteht immer noch ein Funken Hoffnung.«
»Was ist das Weiße Haus, Daddy?«
»Das russische Parlamentsgebäude an der Moskwa.«
»Dann nichts wie hin.«
Um sie herum wurden Stimmen laut. »Zum Weißen Haus«, rief jemand aufgeregt. Wie von einem Magneten angezogen, strömten die Menschen in Richtung Arbat, der breiten Straße, die zur Kalinin-Brücke und der Moskwa führte. Die Menge, die zum Fluss marschierte, wurde unablässig dichter, und als das weiße Parlamentsgebäude am Ende des Arbat in Sicht kam, war sie auf Tausende angeschwollen. Inmitten des wogenden Menschenstroms hatte Leo das Gefühl, in einem Strudel gefangen zu sein, aus dem es kein Entrinnen gab.
Am Weißen Haus gaben Veteranen des Afghanistankriegs, erkennbar an Teilen ihrer alten Uniform, den Studenten Hilfestellung beim Barrikadenbau. Einige kippten Autos und einen Linienbus um, andere fällten Bäume oder schleppten Badewannen von einer Baustelle in der Nähe heran, wieder andere brachen Pflastersteine aus der Straßendecke. Auf den zehn Panzern, die im Halbkreis um das Weiße Haus gruppiert waren, saßen die Soldaten und schauten rauchend zu, ohne einzuschreiten. Plötzlich, kurz nachdem die Glocken der Stadt zur Mittagsstunde geläutet hatten, brandete ein Jubelgeschrei auf, das immer lauter wurde. »Sieh mal«, schrie Leo und zeigte auf die Eingangstür des Parlamentsgebäudes. Die massige Gestalt eines großen Mannes mit grauem Haar war auf der obersten Stufe zu sehen, die Arme hoch über den Kopf gereckt, die Finger der rechten Hand zu einem V gespreizt. »Das ist Jelzin«, rief Leo seiner Tochter ins Ohr.
Tessa kletterte auf die Motorhaube eines Autos und machte einige Aufnahmen, kämpfte sich dann durch die Menge, um besser sehen zu können. Leo folgte ihr. Jelzin kam die Treppe des Weißen Hauses herab und stieg auf einen Panzer. Die Menschen verstummten. Journalisten hielten Mikrofone hoch. »Bürger Russlands«, dröhnte seine Stimme über die Köpfe der Demonstranten hinweg, »die Verschwörer versuchen, den demokratisch gewählten Präsidenten des Landes zu entmachten. Was sich hier abspielt, ist ein Staatsstreich konservativer Verfassungsgegner. Wir erklären daher alle Entscheidungen und Verordnungen dieses Staatskomitees für ungesetzlich.«
Jelzins kurze Ansprache erntete stürmischen Applaus. Er kletterte von dem Panzer herunter und plauderte mit einem Offizier des Taman-Garderegiments, der erstaunlicherweise zackig salutierte. Übers ganze Gesicht strahlend, bahnte Jelzin sich einen Weg durch die Menge seiner Anhänger, die ihm auf den Rücken schlugen und die Hand drückten, bis er die Treppe des Weißen Hauses erklommen hatte und im Gebäude verschwand.
Die Motoren der zehn Panzer heulten auf und schwarze Rauchwolken quollen in die Luft. Völlig verdattert sahen die Menschen zu, wie die Geschützrohre sich vom Parlamentsgebäude wegdrehten, und brachen in Freudengeheul aus, als sie begriffen, dass die Panzer nach Jelzins Ansprache das Weiße Haus nicht mehr bedrohten, sondern verteidigten.
Im weiteren Verlauf des Nachmittags strömten noch Abertausende auf
Weitere Kostenlose Bücher