Die Company
dem Zauberer durch den Kopf, dass er hier auf dem Dach vielleicht nicht sicher war – Ebbitt hatte ihm einmal erzählt, dass die sowjetischen Panzer beim Einmarsch in Budapest 1956 die unteren Stockwerke von Häusern beschossen hatten, so dass die oberen auf die unteren krachten. Torriti hatte Ebbitt damals in Berlin falsch eingeschätzt – mein Gott, das war eine Ewigkeit her! –, der Bursche war doch ein feiner Kerl. Und mit russischen Panzern kannte Ebbitt sich aus – schließlich hatte er das Fiasko in Budapest hautnah miterlebt. Aber das Hotel Ukraine mit all seinen Ausländern drin würden die Panzer bestimmt nicht angreifen. Sie würden das Weiße Haus drüben aufs Korn nehmen. Aber dafür müssten sie erst unzählige Menschen niederwalzen.
Würden die Generäle und KGB-Verschwörer einen Rückzieher machen, wenn russisches Blut vergossen wurde? Würden die Demonstranten auf den Straßen die Flucht ergreifen, wenn die Situation aus den Fugen geriet?
Von tief unten auf den Straßen drang undeutliches Geschrei herauf. Torriti hievte sich aus dem Stuhl, trottete zur Brüstung und drehte das Ohr in die Richtung des Geräusches. Worte schienen mit dem kühlen Luftstrom vom Fluss herüberzutreiben. Ross und noch irgendwas. Rossija! Genau. Rossija! Rossija!, erscholl es durch die Straßen und hallte zu ihm herauf. Rossija! Rossija! Rossija!
Torriti kratzte sich das Gesäß. Die besten Jahre seines Lebens hatte er für den Kampf gegen dieses Rossija vertan, und jetzt war er hier, hoch oben auf einem Moskauer Dach, betrank sich und hoffte inständig, dass es überlebte.
Asalia Isanowas Nerven lagen blank. Abgesehen von gelegentlich etwas Schlaf auf einer Couch war sie die ganze Zeit auf den Beinen, um Jelzins eindringlichen Appell zum Widerstand gegen den Putsch bis in die entferntesten Winkel des riesigen Sowjetreichs zu faxen. Und ihre Mühe trug erste Früchte: Von überallher trafen Loyalitätsbekundungen ein. Kolchosen im Kaukasus, regionale Dumas in Zentralasien, sogar Veteranengruppen auf der weit entfernten Halbinsel Kamtschatka erklärten per Telex ihre Unterstützung. Jelzin selbst jubelte, als Asa ihm die Nachricht brachte, dass sich in Swerdlowsk hunderttausend Menschen versammelt hatten und gegen den Putsch protestierten. Jetzt, am zweiten Abend des Staatsstreiches, schossen die Gerüchte ins Kraut. Panzereinheiten sollten den Befehl erhalten haben, die Zugangswege zum Weißen Haus zu räumen. Elitetruppen des KGB hatten angeblich auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Moskau Hubschrauber bestiegen. KGB-Chef Krjutschkow, so hieß es, habe in der Lubjanka eine Konferenz einberufen und seinen Leuten ein Ultimatum gestellt: Die Konterrevolution sollte binnen vierundzwanzig Stunden niedergeschlagen werden. Asa trat an ein offenes Fenster, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Vor dem Weißen Haus waren Demonstranten damit beschäftigt, Möbel zu zerkleinern, um mit dem Holz die Lagerfeuer eine weitere Nacht lang in Gang zu halten. Auf einer provisorischen Bühne wechselten sich Regierungsfunktionäre an einem Mikrofon ab, um die Moral der Konterrevolutionäre zu heben. Dann trat der Dichter Jewgeni Jewtuschenko ans Mikrofon. Seine durchdringende Stimme, die jedem Russen vertraut war, hallte aus den Lautsprechern an Laternenmasten über den Platz. » Njet! «, rief er.
Russland wird nicht wieder
für endlose Jahre auf die Knie fallen.
Bei uns sind Puschkin, Tolstoi.
An unserer Seite steht das ganze erwachte Volk.
Und das russische Parlament
wie ein verwundeter Marmorschwan der Freiheit,
verteidigt vom Volk,
schwimmt in die Unsterblichkeit.
Der Jubel klang Asa noch in den Ohren, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie eilte hin und riss den Hörer von der Gabel. »Ja, ich bin’ s«, sagte sie. »Ich dich auch … Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin. Ich hab nur Angst, dass jemand dich erwischt, wenn du anrufst … Wenn das alles vorbei ist, mein Liebster … ja, ja, aus ganzem Herzen, ja … Wann soll das passieren? … Bist du sicher, dass es nur ein Test ist, dass sie nicht zum Angriff blasen? … Und sie haben keinen Verdacht? … Ich bete, dass du Recht hast. Pass gut auf dich auf. Ruf mich an, wenn du etwas Neues weißt. Sieh dich vor … ich hoffe, es wird alles gut. Leg jetzt auf, bitte … Dann leg ich eben für dich auf. Bis bald.«
Asa zwang sich aufzulegen und ging dann den Flur hinunter zu Jelzins Kommandozentrale. Boris Nikolajewitsch, die Haare
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