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Die Containerfrau

Die Containerfrau

Titel: Die Containerfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Smage
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treten Tränen in die Augen. Jetzt versucht sie, ihren Traum aufzugeben. Den Traum vom Westen, den Traum davon, als Näherin dazuzulernen und für schöne Frauen schöne Kleider zu nähen. Ihre Moden kennen zu lernen, ihren Geschmack, ihre Codes. Nicht so hoffnungslos naiv an die Sache heranzugehen wie Olga und die anderen Frauen, die viele Kleider nähten und dann nach Norwegen fuhren und glaubten, die Frauen dort würden Schlange stehen. Die Frauen standen nicht Schlange. Sie lachten. Prusteten los. Fragten, ob das hier Karnevalskostüme sein sollten. Olga war völlig fertig, als sie zurückkam. Und ruiniert. Hatte sich mit einer Kollektion von Kleidern ruiniert, die niemand kaufen wollte.
    Sie steht auf und geht, hat Probleme mit den flüsternden, tuschelnden Mädchen. Auf dem Gang draußen sieht sie ein großes schwarzes Brett. Daran hängen viele Plakate und weiße, eng beschriebene Zettel, Informationen. Sie sieht oben auf einem Zettel das Wort »Universität«. Daneben, hinter Glas und Rahmen, hängt eine Karte. Sie erkennt die Karte, erkennt das Land. Es ist der lange Schlauch im Westen, vor dem Atlantik, der Norwegen heißt. Aber warum ist die Stadt gleich daneben auf einer anderen Karte vergrößert? Und warum steht überall Trondheim? Sie wollten doch nicht nach Trondheim, sie wollten nach Oslo. Ist sie nicht in Oslo? Sie tritt dicht an die Karte heran, betrachtet sie, begreift, dass der breite Fjord durchaus der sein kann, den sie auf der Flucht vor Andrej und der Liquidierung gesehen hat. Oslo liegt im Süden, an einem Fjord, doch der zieht sich in die andere Richtung.
    Sie befindet sich nicht in der Hauptstadt, sie ist irgendwo in der Provinz gelandet, deshalb findet sie keinen richtigen Hafen mit vielen Schiffen und geschäftigem Verkehr. Sie haben sie betrogen, die ganze Zeit haben sie sie betrogen. Haben sie und die anderen betrogen. Wo mögen die jetzt sein? Vielleicht haben sie es bis Oslo geschafft, vielleicht ist nur sie hier ausgesetzt worden. Wenn sie nur wüsste, warum. Gab es Ärger mit ihrem Pass? Sie haben gesagt, der sei in Ordnung. Oder mit der Einreisegenehmigung? Sie haben gesagt, das sei kein Problem, Norwegen brauche tüchtige Näherinnen wie sie, sie haben gesagt, zuerst bekomme sie eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate, dann die Arbeitsgenehmigung, und danach werde alles laufen wie geschmiert. Denn Leute wie sie würden gebraucht. Arbeitskräfte. Sie begreift langsam, welche Art von »Arbeitskraft« damit gemeint war. Sie war einfach nur dumm. Und etwas ist schief gegangen, absolut schief. Für die anderen. Ihr Instinkt hat Recht, sie wollen sie umbringen, machen Jagd auf sie, sie muss … Sie stürzt zur Tür. Und voll in die Arme des seltsamen Mannes.

18
    »Don’t rush«, sagt er und packt sie am Arm. Führt sie aus dem Haus und zu einem Wagen, einem großen hohen Wagen.
    Er öffnet die Tür und schiebt sie hinein. Der Motor läuft, sie will die Tür öffnen und hinausspringen. Findet den Griff nicht, kann die verdammte Tür nicht öffnen. Schreit ihn an: »Out! I out! Please!«
    »Take it easy«, hört sie, als er um eine Ecke biegt. »Take it easy.« Und er wirft ihr einige Kleidungsstücke zu, Militärkleider. Jacke und Hose in Tarnfarben. Ihr schaudert.
    »We, you and I, go hunting«, sagt er und schiebt eine Kassette ins Gerät. Musik strömt heraus, die Ähnlichkeit mit der hat, die Andrej ihr gegeben hatte, der, die sie auf seinem CD-Gerät gehört hat.
    »I am a kind man«, sagt er und starrt die Fahrbahn an. »I do not hurt anybody. And I like you. Please.«
    Sie kann die Tür nicht öffnen, sie sitzt eingesperrt im Wagen eines freundlichen Irren. Sie atmet langsam auf, denkt an die geladene Waffe in ihrer Jackentasche, denkt, wenn er anhält und irgendwelche Versuche macht, dann wird sie … Sie wird jedenfalls nicht in einer Stadt, die gar nicht Oslo ist, einem Irren zum Opfer fallen.
     
    Sie fahren. Sie fahren weit. Die Stadt verschwindet, die Lichter verschwinden, die Straße verschwindet. Er summt zur Musik, biegt von allem ab, was Ähnlichkeit mit Hauptstraßen hat, und fährt im Zickzack durch ein Gelände, das ihr eine Höllenangst macht. Durch Wald. Dichten, dunklen Wald. Das Tageslicht geht zur Neige, sie sieht die Konturen einer Wildnis. Einer undurchdringlichen düsteren Wildnis. Hoher Nadelwald. Die wenigen Lichter, die sie sieht, lassen die einsame Natur noch einsamer aussehen. Das Gewicht der Waffe in ihrer Tasche fühlt sich gut an. Endlich hält

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