Die Containerfrau
er. Biegt auf einen Parkplatz ab, schaltet den Motor aus und sagt: »Here we are.« Und dann steigt er aus. Öffnet die Tür für sie und lädt sich einen Rucksack auf. Ein zerbrochenes Gewehr schaut heraus, oder ist es ein Jagdgewehr? Auf jeden Fall ist es eine Waffe.
»No«, sagt sie, weigert sich, den Autositz zu verlassen, will hier absolut nicht weitergehen. Diese dunkle Wand, die da vor ihr aufragt, will sie um keinen Preis durchdringen. Es riecht gut, ein scharfer, kalter, frischer Geruch, aber der Mann soll sie nicht in die Irre führen. Sie wird nicht in einen dicken, undurchdringlichen norwegischen Tannenwald hineingehen.
»Come on.« Der Mann vor ihr ist jetzt ungeduldig, er sagt etwas von »a long walk« und »before it gets dark«.
»NO!«, wiederholt sie und wird gleich darauf aus dem Auto gestoßen.
»Women«, sagt er, und dann lacht er resigniert. Sie sieht, wie er Autoschlüssel und Mobiltelefon in die Tasche seiner Tarnjacke steckt. Aber inzwischen hat sie schon zu ihrer Waffe gegriffen, hat sie aus der Jackentasche gezogen und auf ihn gerichtet. Legt die Hand an den Abzugshahn und sagt noch einmal »no«. Wenn er überrascht ist oder sich fürchtet, so zeigt er das jedenfalls nicht. Er zuckt nur mit den Schultern, kehrt ihr den Rücken zu und geht. Geht wie ein Schatten über einen Weg, mit Rucksack und Gewehr auf dem Rücken, geht einfach nur. Sie schaut sich hastig um, glaubt, überall wilde Tiere und Gefahren zu sehen, sie steht allein auf dem Platz, reißt an den Autotüren. Die sind verschlossen. Und sie ist allein in etwas, das schlimmer ist als alles andere. Allein in einem Wald, meilenweit von anderen Menschen entfernt, ohne Ahnung von den Richtungen. Sie hebt die Waffe, zielt auf die Baumwipfel, das kann er ihr doch nicht antun, feuert. Sie hört nur ein Klick, ein kleines leeres Klick. Davor erschrickt nicht einmal ein Regenwurm. Sie lässt die Waffe sinken und sieht, wie er auf sie zukommt. Langsam kommt er angeschlendert, kommt ganz dicht auf sie zu, versucht nicht, ihr die Waffe wegzunehmen, die sie noch immer umklammert hält, er schaut diese Waffe nur an, mustert sie.
»Beautiful, so beautiful«, sagt er und zeigt auf ihre Tasche. »Hide it.« Und mit einer Kopfbewegung geht er wieder auf den dunklen Wald zu. Er ist verrückt. Aber hier stehen, hier allein sein, wenn die Nacht kommt … dann wird sie verrückt.
Mit Minirock, Leggings, Stiefeln und Jeansjacke und mit einer ungeladenen Waffe in der Jackentasche folgt sie ihm und verschwindet durch das Tannenportal in einen norwegischen Nadelwald.
19
Wenn das Telefon der Trondheimer Wache für die Hinweise auch nicht gerade heißläuft, so kommen doch immerhin einige Anrufe. Ein Betrunkener, der sich an einer Hausmauer festhält, ruft an und erzählt etwas von einer Frau, mitten in der Nacht, in der Nachbarschaft des RiT. Ihr Gesicht war ein bisschen verziert, vielleicht war das die, die sie suchen? Der Mann lebt von seiner Frau getrennt und braucht deshalb keiner übellaunigen Gattin seine nächtlichen Eskapaden zu erklären. Die Polizei notiert.
Ein Taxifahrer auf dem Weg nach Skansen und zu einer Tasse Kaffee in einem Lokal, das die ganze Nacht geöffnet hat, meldet ein Mädchen, das von der Ila-Kirche kam und sich im Gebüsch versteckte, als er vorbeifuhr. Sicher eine Gymnasiastin auf Abwegen, die schreckliche Angst vor einem nächtlichen Streifenwagen hat, hatte er gedacht. Aber es könnte doch auch … Die Polizei notiert. Ein Bote, der im Halbschlaf über die Fußgängerbrücke radelte, um »Adresseavisen« auszutragen, meldet sich nie. Der Junge liest keine Zeitungen, er trägt sie nur aus. Im Halbschlaf.
Und kein Pieps kommt von dem Mann, der ihr den Platz in der Herberge verschafft hat.
Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, sie hatten eine Suchmeldung herausschicken müssen, nachdem die Frau aus dem Krankenhaus verschwunden war. Es ist unmöglich, einem ganzen Krankenhaus einen Maulkorb zu verpassen. Sogar Sundt hatte das eingesehen. Einem Krankenhaus, das auf dem Kopf stand und überall nach einer verschwundenen Patientin suchte, in Kleiderschränken und Kellergängen, in Fahrstuhlschächten und Wäschekammern, unter Betten und überall. Sie konnten sogar ihre Kleidung beschreiben, dafür sorgten die Verwandten der Frau im Nachbarzimmer. Es war ein teurer Mantel, mit Seidenfutter, aber eigentlich war er hoffnungslos anonym, dachte Anne-kin Halvorsen. Sie und Vang schauten kurz in der Wache vorbei, um ihre
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