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Die Containerfrau

Die Containerfrau

Titel: Die Containerfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Smage
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du zum Sündenbock der Wache ernannt, mein Mädel. Der Wirrkopf, der sich während der Urlaubswoche nicht alle Hausmitteilungen nachschicken lassen wollte. Aber Sundt ist »lieb« oder was immer er hier sein mag. Auf jeden Fall redet er weiter über »Hausroutinen, die leider nicht eingehalten worden sind« und über »Kommunikationsfehler«, für die er, als direkter Vorgesetzter, die vollständige Verantwortung übernehmen muss.
     
    Aber nach der Besprechung wissen doch alle, dass hier die Rede von Kommissarin Halvorsens Mobiltelefon war.

45
    Sie hatten ihr eine Chance von zwanzig Prozent gegeben, die Ärzte, die Fachleute. Eine Chance von einem Fünftel, die Operation zu überleben. Keine Chance überhaupt, wenn die Kugel nicht entfernt würde. Sie finden die Kugel, eine vom selben Kaliber wie die, die in der CD-Sammlung von Annekins Nachbarn gesteckt hat; 6,5 mm. Die Patientin stirbt nicht auf dem Operationstisch, sie überlebt den Eingriff, überlebt die Fahrt zur Intensivstation, wo sie an Leitungen und Messgeräte angeschlossen wird, die ihre verschiedenen Körperfunktionen überprüfen sollen. Die Narkose geht zu Ende, auch das überlebt sie. Aber danach ist Schluss. Fast. In ihrem schmalen Körper verlangsamt sich alles, so, als habe jemand Sand in ihr Getriebe gestreut, die Zahnrädchen schlingern und die Lebenspumpe setzt zwischendurch aus. Die Kurven auf diversen Oszilloskopen flachen aus und wogen dann wieder los. Es herrscht die totale Krise. Alle möglichen Leben erhaltenden Maßnahmen werden ergriffen. Aber das Leben verebbt ganz langsam. Der Tod schnappt sich die achtzig Prozent negativen Chancen, verzehrt sie in einem einzigen Bissen. Und macht sich an die übrigen zwanzig. Frisst sich auf die Null zu. Irina aus Murmansk hat im Grunde in ihrem ganzen Leben nicht mehr als zwanzig Prozent Chance gehabt, die Wahrscheinlichkeit war immer gegen sie. Trotzdem hat sie überlebt.
    Und sie überlebt auch jetzt. Verbeißt sich ins Leben und bringt das Krankenhauspersonal dazu, erst die Augen aufzureißen, dann den Atem anzuhalten, dann nicht zu hoffen wagen, dann zu warten. Und dann erleichtert aufzuatmen. Die Kleine hat den Prozess umgekehrt, sie hat sich an ihren zehn, fünfzehn Prozent festgeklammert und schleppt sich zurück ins Leben. Das zeigen die Messgeräte, sie zeigen eine angenäherte Normalität. Sie atmet, ihrem Gehirn wird Sauerstoff zugeführt, ihr Herz pfuscht nicht mehr. Aber sie kommt nicht zu sich. Zusätzlicher Sauerstoff wird zugeführt. Etwas passiert. Nach langer Zeit schlägt sie die Augen auf, was vom Krankenhaus an die Wache berichtet wird: Die Patientin ist bei Bewusstsein. Aber nur bei schwachem. Kontakt nicht herzustellen. Reflexe jedoch scheinen zu funktionieren. Die Augen sind offen.
    Mit diesem Wissen fährt Kommissarin Anne-kin Halvorsen ins RiT, mit diesem Wissen und der Gewissheit, dass Irina von der Sorte ist, die wirklich auf dem Wasser wandeln kann. Die das Unmögliche zwingt, möglich zu werden, die sich an dem Einzigen anklammert, das sie hat. Dem Leben.
    Anne-kin kauft im Foyer Blumen, wieder Nelken, haben die denn nichts anderes, und geht die Treppen hoch. Dort begrüßt sie den Kollegen, der vor Irinas Tür Wache hält, sie gehen jetzt kein Risiko mehr ein, und nachdem er ihren Ausweis überprüft und ihr einige gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben hat, geht sie hinein. Obwohl alles so traurig ist, freut sie sich doch sehr darüber, dass sie jetzt mit einem Blumenstrauß durch diese Tür gehen und sagen kann: »Hey, how are you? It’s me. Remember?« Sie fährt sich durch die Haare, räuspert sich, drückt auf die Klinke, öffnet die Tür, geht hinein, steht vor dem Bett.
    Und begegnet Irinas Blick.

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    »Ich gebe alles zu«, sagt die Kleine. Doch gleich darauf sagt sie: »Ich gebe gar nichts zu, verdammt. Ich war das doch nicht.« Es dauert nicht lange, bis ihnen klar ist, dass es so weitergehen wird, vor und zurück, hin und her. Weil sie sich ganz einfach an nichts erinnern kann, sie hat keine klare Vorstellung von Messer, Streit, Trinkgelage oder überhaupt ihrem Leben an dem Abend, an dem Søfting, allgemein Manne genannt, in Nyhavn erstochen worden ist. Sie weiß nur, dass sie nichts weiß. Aber durch wiederholte Vernehmungen von mehreren aus der Junkie-Clique, die in dieser Nacht dort unten waren, und die vielleicht nicht ganz so zugeschneit waren wie sie, bildet sich ein Bild. Das nicht zu ihren Gunsten spricht. Konfrontation und Vergleich mit den

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