Die Cromwell Chroniken: Kaltes Feuer
brachte er fertig. Im Theorieteil des Unterrichts erlaubte er seinen Gedanken, davonzudriften. Es war herrlich, einfach nur vor sich hinzugrübeln und nicht befürchten zu müssen, jeden Moment angemotzt oder bestraft zu werden. Das mochte er an der jungen Dozentin. Sie hatte etwas Mitgefühl in dieser mitleidlosen Welt.
Gut gelaunt grinste Valerian und topfte die nächste Pflanze ein. Das erinnerte ihn an die kurze Zeit bei seiner Großmutter auf dem Bauernhof. Dort hatte er auch gerne im Garten geholfen. Die Luft war genauso frisch gewesen und er hatte durchatmen können. Eigentlich verblüffend, dass es in dem schmutzigen und furchtbar hektischen Berlin so viel Grün und so viel gute Luft gab!
Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte er Flint auf dem Boden sitzend entdeckt. Er schien zu meditieren. Man sah ihn sonst nie so entspannt. Wenn er wach war, wich er den Blicken seines Gegenübers aus oder verzog das Gesicht. Nachts trug er ebenfalls eine angespannte Miene zur Schau und starrte mit offenen Augen panisch an die Zimmerdecke. Nur in der Meditation war es seinen Gesichtsmuskeln vergönnt, sich auszuruhen. Dabei hatte Valerian – mit großem Unwillen – entdeckt, dass Flint streng genommen recht gut aussah.
Niemand mag Konkurrenz, am wenigsten wir … äh … ich … du …
Nach einem verwirrten Moment schüttelte Valerian den Kopf und beschloss, eine Weile nicht zu denken. Es war besser so.
Linda musste lächeln. Zwischen Valerian und Flint entwickelte sich tatsächlich so etwas wie eine Freundschaft. Wer hätte das gedacht? Gehofft hatte sie es natürlich schon die ganze Zeit, aber wirklich damit gerechnet? Die zweite Woche in Cromwell war fast vorüber. Zugegeben, die Wochen waren auch wirklich sehr kurz. Da der Unterricht nur von Montag bis Donnerstag dauerte, waren die Wochenenden schnell erreicht und sehr lang. Vielleicht sollte sie noch ein Fernstudium beginnen? Ob es das für blinde Menschen gab? Sie würde ihren Bruder darauf ansetzen, er sollte das für sie in Erfahrung bringen. Sie hatte sich sowieso schon sträflich lange nicht mehr gemeldet. Nachdem ihre Familie so gefasst auf ihre Ankündigung reagiert hatte, dass sie dieses Wochenende hierbleiben würde, war sie es ihnen schuldig, etwas von sich hören zu lassen.
„Jetzt sind wir an der Reihe!“, hörte sie Valerian sagen.
Niemand von den anderen wagte es, sich bei der Essensausgabe vor ihn zu stellen. Keiner konnte solch einen unermesslichen Hunger haben. Einen unsterblichen Hunger sozusagen … Leise lachte sie und war sich sicher, einige verwunderte Blicke einzufangen.
Valerian konnte ihr Lachen hören und meinte verteidigend: „Was denn? Ich bin dabei, Krafttraining zu machen. Ich brauche das Eiweiß für den Muskelaufbau!“
„Nudeln enthalten fast kein Eiweiß“, kam es nüchtern von Flint.
„Pah! Das ist alles eine Frage der Menge!“
Nachdem sie ihre Tabletts gefüllt hatten, wählten sie einen Tisch und setzten sich. Doch die Ruhe währte nicht lange. Cendrick und sein neuer „Fanclub“ folgten ihnen auf den Fersen.
„He, Valerian, Kumpel! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn wir uns dazusetzen? Klasse! Danke, Mann!“
Linda hörte Valerian noch nicht antworten, da wurde auch schon ein zweiter Tisch an ihren geschoben. Als sie den Kopf noch etwas weiter drehte, sah sie eine Aura, die sie sofort Tamara zuordnen konnte. Tamara war in dieser Hinsicht (und in so vielen anderen) einmalig.
Die blinde Seherin wusste nie so recht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollte. Zum einen spürte sie deren Unwillen, wenn sie versuchte, sich mit ihr zu unterhalten oder sich Zeit für sie zu nehmen. Zum anderen sah sie ganz deutlich ihre Bedrückung und Einsamkeit. Linda wurde aus ihr nicht schlau. Und da Tamara oft abweisend reagierte auf jede gezeigte Nettigkeit, hatte Linda es aufgegeben, sich intensiv um sie zu kümmern. Sie hatte deshalb bereits ein schlechtes Gewissen, doch sie fand einfach keinen Draht zu der Hexe. Sie gab ihr das Gefühl, ein Störenfried zu sein – und das mochte die junge Seherin nicht.
Flint hatte sich wieder in seine schweigsame Hülle zurückgezogen. Linda hatte so gehofft, dass sie zu dritt ein wenig plaudern könnten, doch mit dem Cendrick-Fanclub in unmittelbarer Nachbarschaft begann ihre Hoffnung zu schwinden. Sie hatte jetzt selbst keine Lust mehr auf ein Gespräch. Vielleicht konnten Flint und sie sich ja schnell absetzen? Valerian dagegen schien seine helle Freude zu haben. Sie konnte
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