Die da kommen
nicht wie einer.«
»Nein.«
»Dann sollten Sie besser gehen.«
Im Auto versuche ich, wieder normal zu atmen. Aber ich kann den Schluckauf und den Rotz und die Tränen nicht stoppen. Freddy wacht auf. Ich sage ihm, er soll unter der Decke bleiben, bis ich Entwarnung gebe. Er fragt nicht, weshalb ich weine. Ich sitze da und kämpfe und verliere.
Wir gehören zur Alten Welt. Die Zeit arbeitet nicht so, wie Sie denken. Sie sind zurückgekommen, um uns zu stoppen. Was soll das heißen?
Ich fahre los. Da die Ampeln nicht funktionieren, hupe ich an jeder Kreuzung. Aber ich halte mich nicht ans Tempolimit.
Fünfzehn Minuten später lasse ich Freddy wieder auf den Rücksitz.
»Warum können wir nicht in die Einrichtung?«
»Weil sie geschlossen ist. Es hat ein Problem gegeben.«
»Wo sind die anderen?«
»Weg.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wir müssen sie finden.«
»Tut mir leid, Freddy K. Das geht nicht.«
»Lass mich raus!« Er greift nach der Tür.
Ich verriegle sie mit der Kindersicherung und fahre weiter.
Er beginnt zu weinen.
Es ist mir egal. Mir ist alles egal. Ich bin ein Roboter aus Fleisch.
Ich halte an einem Eckladen, steige aus und schließe Freddy wieder ein. Der Mann sagt, er hätte Vorräte.
»Ich habe Kartons mit Dosen, falls Sie die wollen.« Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Aber das kostet.«
Ich gebe ihm mein ganzes Bargeld.
Ich bemerke nicht die Gestalt auf dem Dach des Hochhauses gegenüber, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, die Kartons ins Auto zu laden.
Dann aber lässt mich ein Geräusch aufblicken. Stukkk.
Ich müsste eine Verbindung herstellen, aber es gelingt mir nicht.
Dann erklingt das Geräusch noch einmal, und jetzt begreife ich. Ein Scharfschütze. Er zielt auf Freddy. Der Junge hat nichts gemerkt. Er ist noch auf dem Rücksitz in seine DVD vertieft, in eine Welt voller Sand und Schlangen. Ich möchte hierbleiben, hin- und herschaukeln und meine Gedanken sammeln. Aber das wird nicht gehen. Das weiß ich.
Also schreie ich Freddy an, er solle sich ducken, springe ins Auto und fahre los.
Mein Herz hämmert. Ich bin vollkommen überfordert. Zum ersten Mal hilft mentales Origami nicht mehr weiter. Das Papier widersetzt sich und zerknüllt bei der ersten Berührung.
Als ich drei Stunden und neunzehn Minuten später auf der M 1 anhalte, um zu tanken, muss ich die Finger mühsam vom Lenkrad lösen. Sie sind blass und steif, wie tiefgefroren.
Eine halbe Stunde später kommen uns auf der Gegenfahrbahn achtzehn Armeelaster entgegen.
Und ich weiß, dass eine neue Phase der menschlichen Geschichte begonnen hat.
16
Ich hatte mir vorgestellt, wie Freddy mit mir auf Arran leben würde, in dem Cottage am Meer. Ich wollte ihm zeigen, wie sich die Farben des Buschlands von Minute zu Minute ändern und je nach Sonnenstand das gesamte Farbspektrum durchlaufen. Er würde sehen, wie nach einem Sturm das Salz auf den nackten Granitfelsen glitzert. Wir würden die Bucht entlang bis zu den Windrädern gehen, und ich würde ihm deren Bauweise und Aerodynamik erklären. Er würde eine Weile zuhören und dann den Hügel neben dem zerstörten Steinhaufen emporstürmen, wobei er aus voller Kehle in den Wind brüllen würde. Wir würden Drachen bauen, essbare Beeren und Pilze sammeln, aus Treibholz Boote bauen und in Felstümpeln schwimmen lassen, Vogelstimmen identifizieren, Lagerfeuer machen und darüber die selbst geangelten Makrelen grillen und Bücher lesen, die vor Fakten förmlich überquellen.
Aber nichts ist so, wie ich gedacht habe.
Ein Monat ist vergangen, seit wir London verlassen haben. Bald kommt der Winter. Als ich mich nach der Trennung von Kaitlin entschied, auf die Insel zu ziehen, wollte ich einfach nur isoliert sein und allein leben. Jetzt aber begreife ich, dass es in dieser Zeit, in der sichere Distanz so wichtig ist, ein entscheidender Vorteil sein kann, vom Meer umgeben zu sein. Die Arraner haben immer gewusst, wie man mit dem auskommt, was da ist. Wenn der Treibstoff zu Ende geht unddie Fähre aufs Festland eingestellt wird, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Gewohnheiten und Lebensweise ihrer Vorfahren wieder aufzunehmen: jagen, fischen, Fallen stellen, Schafe scheren, im Rhythmus der Jahreszeiten pflanzen und ernten.
Hinter dem Cottage und dem Durcheinander aus rostigen Traktorteilen gibt es ein verwildertes Stück Land, das früher einmal bewirtschaftet wurde. Im Sommer erheben sich die violetten Blütenkugeln der Zwiebeln und die
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