Die da kommen
Einrichtung.«
»Bedaure, Sir, ein Fall von Sabotage. Sieht aus, als hätte einer Ihrer Kollegen die Türcodes deaktiviert.«
Ich überlege rasch. »Ich wollte nur ein paar Dokumente abholen. Einen Bericht für die Innenministerin. Sie rechnet noch heute damit. Ich muss da rein.«
Er zuckt mit den Schultern. »Die Gefahr ist vorbei, aber es ist nicht gerade gemütlich dort drinnen. Ich warne Sie, Kumpel. Das ist ein Tatort, also nichts berühren oder mitnehmen.«
Er winkt mich hinein. Ich würde am liebsten rennen, zwinge mich aber zu gehen. Von den sechsunddreißig Stufen nehme ich immer zwei auf einmal. Alles ist verlassen. Keine umherwimmelnden Kinder, kein Schnalzen oder Tuten oder Summen, keine leuchtenden Uniformen: nur die Leere eines Ortes, der plötzlich und unerklärlicherweise verlassen wurde. Ich denke an Bienen und das Marie-Celeste-Syndrom. Der Flur, der zu Professor Whybrays Büro führt, ist abgeriegelt worden. Einige Soldaten versperren mir den Weg.
»Wer sind Sie bitte, Sir?«, fragt eine Soldatin, als ich näher komme.
»Autorisiertes Personal«, sage ich und zeige meinen Ausweis.
»Gut«, erwidert sie knapp. »Dann können sie Ihren Kollegen für uns identifizieren.«
Sie macht den anderen ein Zeichen, damit sie zurücktreten. Als sie sich an den Wänden aufreihen, sehe ich eine Leiche mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen.
Sie ist männlich und groß. Darauf bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich stütze mich an der Wand ab. Ich erkenne diehochwertigen Lederschuhe. Das weiße Haar. Ich beginne hinund herzuschaukeln.
»Wir drehen ihn für Sie um, Sir. Sind Sie bereit?« Zwei Soldaten bücken sich.
Nein. Dafür werde ich nie bereit sein. Sie drehen ihn sanft herum. Sein Hemd ist mit frischem Blut getränkt. Seine Augen sind geöffnet. Das linke ist schrecklich zugerichtet. Er hat Blut unter der Nase, und sein Mund ist von Erbrochenem verkrustet. Die Haut, die nicht rot oder violett ist wie am Hals und der linken Hand, wirkt papieren und durchscheinend weiß.
»Ist er tot?« Ich weiß nicht, warum ich das frage. Ich kenne die Antwort. Ich schaukle immer weiter.
»Es ist sicher ein Schock für Sie, Sir«, sagt die Soldatin. »Es tut mir leid.«
Ich schaukle stärker. »Es ist in Ordnung. Ich fühle gar nichts. Vielleicht später.«
Oder ich bin doch ein Roboter aus Fleisch. Das wäre sicher gut, denn dann könnte ich rational denken und handeln. Ich erstelle im Geiste ein Ablaufdiagramm. Es rät mir, das Notizbuch des Professors zu holen und dann nach Naomi zu suchen.
»Wie ist Professor Whybray gestorben?« Es ist wichtig, die Fakten zu kennen.
»Vermutlich wurde er totgetrampelt«, sagt ein Mann mit weißem Anzug und Gesichtsmaske. »Wahrscheinlich haben sie ihn mit einer ganzen Bande angegriffen. Sind auf ihm herumgesprungen. War ja nicht schwer. Er war schon älter. Die haben das Leben aus ihm herausgequetscht.«
Das Leben aus ihm herausgequetscht. Er war dreiundsiebzig Jahre und fünf Monate alt. In der Welt von heute ist das jung. Er hätte hundert werden können.
»Wo ist Naomi Benjamin? Ich muss mit ihr sprechen.«
»Auf der Polizeiwache.«
»Steht sie unter Verdacht?«
Die Soldatin zuckt mit den Schultern. »Kann ich nicht sagen, Sir. Alle werden befragt.«
Professor Whybray ist tot, Professor Whybray ist tot, Professor Whybray ist tot , sage ich mir wieder und wieder, während ich in sein Büro gehe. Ich finde das Notizbuch in der Aktentasche und stecke es ein. Ich kann nicht riskieren, noch etwas anderes mitzunehmen. Professor Whybray ist tot, Professor Whybray ist tot, Professor Whybray ist tot. Es hilft nichts. Es klingt nicht real. Ein anderer Mensch würde etwas empfinden. Er würde weinen. Stattdessen denke ich über die entflohenen Kinder nach. Sie werden einige von ihnen fangen. Andere werden entkommen. Sie werden wild in Wäldern und an Stränden und in Löchern leben. Sie werden Geschäfte überfallen, um Konserven zu stehlen, sie werden nach Käfern graben, in ihren koschenilleroten Uniformen umherschwärmen, bis sie auseinanderfallen oder weggeworfen werden, und sie werden stinken und Lumpen tragen und Insekten essen. Sie werden einander töten, verstümmeln und verschlingen und mit menschlichem Blut kleine Handabdrücke hinterlassen.
Freddy schläft auf dem Boden des Autos. Die trockene Welt läuft noch immer. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn zu wecken, sondern fahre geradewegs zur Polizeiwache. Wenn sie dort nicht ist, werde ich im
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