Die da kommen
Haustür.
»Freddy K?«
Ein frischer Windstoß weht herein, als er barfuß nach draußen geht. Er trägt überhaupt keine Schuhe mehr, und ich zwinge ihn auch nicht dazu.
»Freddy!«
Wir waren auf dem richtigen Weg, ich kann ihn doch jetzt nicht laufen lassen.
»Was passiert als Nächstes, Freddy?«
Er antwortet nicht.
»Wie geht die Geschichte weiter?«
Es scheint eine harmlose Frage zu sein, aber ich habe wohl das Falsche gefragt, denn er schießt herum und brüllt: »Ich hab doch gesagt, das ist keine Geschichte! Du hörst mir nicht zu! Es passiert wirklich!«
Er läuft zur Rückseite des Hauses, nimmt sich einen Stein und zerschlägt das Eis in der Badewanne. Dann zieht er die riesigen Eissplitter heraus. Sie fallen scheppernd auf den Boden, neben seine nackten, roten Füße.
Ich hole tief Luft und schreie zurück: » Was passiert wirklich, Freddy? Sag’s mir!«
Wie von Sinnen greift er nach der Kette und zieht den Badewannenstöpsel heraus. Die eisige Flüssigkeit gluckert durch den Abfluss und stürzt wie ein Wasserfall in den vereisten Schlamm. Der Goldfisch zuckt in einem schmutzigen Wirbel auf der weißen Emaille. Freddy greift nach dem Tier und stopft es sich so schnell, dass ich gar nicht reagieren kann, in den Mund. Dann rennt er weg.
Mir ist eiskalt. Drinnen ziehe ich mich aus und trockne mich ab. Ich gehe nach oben, setze mich auf mein Bett und schaukle hin und her.
Es ist keine Geschichte, hat Freddy gesagt. Es passiert wirklich.
Aber wann und wo und warum?
Die Erde ist steinhart, aber ich grabe trotzdem weiter, weil mich der Kampf beruhigt. Die Dunkelheit bricht herein. Man kann die Irrlichter über dem Sumpf tanzen sehen, wo das Methan in die Luft steigt, das sich in der Ferne mit der Gischt des Meeres vermischt. Ich betrachte die Umrisse der Wolken, die am Horizont treiben. Ich versuche die Geschichte zu erkennen, die Freddy erzählt und von der er so beharrlich behauptet, sie sei keine Geschichte, sondern die Wirklichkeit.
Es war einmal eine Zeit, in der die Erde, wie wir sie kannten, Amok lief: Hurrikans überquerten gewaltige Ozeane; Küsten ertranken; Ebenen wurden von Salz durchtränkt; Landschaften wurden zu Wüsten; das Grundwasser stieg und kristallisierte. Salz ist von den reinsten Eltern geboren. Zu viel Sonne, zu viel Meer. Der Weiße Tod. Die Konferenz der Schweizer Demografin zum Thema Der perfekte Sturm: Klima, Hunger und Bevölkerung.
Eine Spezies in der Krise. Auf die Phase des exponentiellen Wachstums folgen die Stagnation und dann die Todesphase. Das Ende der Kurve: der Zusammenbruch der Menschheit,von dem Professor Whybray in seinem Notizbuch schrieb. Und was kommt danach?
Ein Ort, den mein Junge gut kennt. Ein Ort, wo er sich zu Hause fühlt. Ein Land voller Insekten und vertrockneter Algen, voller gehorteter Konservendosen aus einer längst vergangenen Ära, die diese Version von Freddy nicht einmal kannte. Gift und Sonnenblindheit. Massensterben, Massengräber aus Salzfleisch. Und wenn das letzte Essen verschwunden ist, gibt es nur noch einen Weg, um den Hunger zu stillen.
Majd. Ikenie.
Kannibalismus. Dann sind noch weniger von ihnen übrig.
Bis – als Umkehrung eines Schöpfungsmythos – nur noch einer übrig ist. Und dann niemand mehr.
Die Geschichte der Kinder ist die Geschichte vom Ende der Menschheit auf Erden.
Eine Stunde später steht er neben mir und schält die Rinde von einem Stock. Barfuß wie üblich, trotz der Kälte.
»Freddy. Der Handabdruck, den du gemacht hast. Was bedeutet er?«
»Stopp. Er bedeutet, ihr sollt aufhören.«
»Womit aufhören?«
Er zuckt mit den Schultern und lässt den Stock fallen. »Mit allem, was Erwachsene machen. Mit allem, was ihr gemacht habt, als ihr noch am Leben wart. Mit allem, was ihr gemacht habt, bevor ihr gestorben seid.«
»Wir sind tot?«
»Ihr stammt aus der Alten Welt. Das ist das Gleiche.«
»Du sagst, ihr wollt, dass wir aufhören. Wer seid ihr?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich und die anderen Kinder. Wir sind alle vom selben Blut.«
»Woher kommt ihr?«
»Von dem Ort, wo man ist, bevor man geboren wird. Und wo man hingeht, wenn man tot ist.«
»Aber du bist am Leben, Freddy. Du bist hier bei mir. Wir sind beide am Leben.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Du bist tot. Für dich fühlt es sich wie jetzt an. Aber in Wirklichkeit ist es schon Zillionen von Jahren her.«
… mein geliebter Hesketh … es als Letzter begreifen und als Letzter den nötigen Sinneswandel vollziehen wird …
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