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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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Grundwasser durch die Hitze der Sonne an die Oberfläche gezogen wird. Shakespeares König Lear basiert auf einem italienischen Märchen über einen König mit drei Töchtern. Eine sagte, ihre Liebe zum Vater sei so hell wie die Sonne, die zweite sagte, so weit wie das Meer, doch als die dritte sagte, sie liebe ihn, wie das Fleisch das Salz liebt, verbannte er sie. Aber sie kehrte verkleidet zurück und gab für den König ein Bankett, bei dem das Essen kein Körnchen Salz enthielt. Als er sich über den Geschmack beklagte, gab sie sich zu erkennen. »So fad wie Fleisch ohne Salz schmeckt, so ist auch das Leben ohne die Liebe meines Vaters«, erklärte sie. Und sie wurden zärtlich wiedervereint.
    Die Klimaveränderungen in den vergangenen fünfzig Jahren haben zu einem chemischen Ungleichgewicht in den Ozeanen geführt, wodurch sich der Säuregehalt erhöht hat und es vor allem in tropischen Regionen zu einer weitreichenden fortschreitenden Versalzung gekommen ist. Einige Tierartenscheinen sich dem anzupassen. Die meisten tun es nicht. In Indien bringt es Glück, Salz zu verschenken, weil es im trockenen Zustand fest ist und unsichtbar wird, wenn es sich auflöst. Jesus nannte seine Jünger »das Salz der Erde«.
    Die reinsten Eltern.
    Es hat einen melodischen Klang.
    Den Nachmittag verbringe ich mit Mazoor, der bei seiner Befragung sanfte, unbarmherzige, mitfühlende, aggressive und weitere Taktiken anwendet. Arabische Männer sehen oft sehr maskulin aus, mit stark behaarten Handgelenken. Ich konzentriere mich auf seine Rolex, während er spricht, und beobachte das Kreisen des winzigen Sekundenzeigers. Sein berufliches Leben dürfte nicht sehr aufregend sein, denn er will unbedingt, dass ich einen Mord gestehe, was ihm wohl eine Auszeichnung eintragen würde. Hätte ich de Vries hinuntergestoßen, könnte Mazoor den Fall abschließen und den Ruhm dafür einheimsen. Ich würde im Gefängnis landen oder sogar hingerichtet werden. Das wäre ein enormes Verdienst.
    Eine der Studien von Professor Whybray über das, was er liebevoll den »Paranoia-Index« nennt, beschreibt den Stresslevel unschuldiger Häftlinge im Verhältnis zur Dauer ihres Gefängnisaufenthalts und zu ihrem Glauben an das Rechtssystem. Wie zu erwarten, variierten die Ergebnisse abhängig von der jeweiligen Kultur. Dank dieser Studie und verschiedenen Zeitungsberichten weiß ich genug über das Rechtssystem in Dubai, um mir Sorgen zu machen. Dennoch verspüre ich während des Verhörs keine Nervosität. Der hypnotische Sekundenzeiger seiner Uhr spielt dabei eine Rolle. Und die Fakten. Ich habe de Vries nicht gestoßen, und falls Mazoor das nicht schon von den anderen Zeugen erfahren hat, wird er es bald hören. Da sich der Kriminalbeamte so sehr aufmeine hypothetische Schuld konzentriert, fällt es mir leicht, das zerlumpte Mädchen zu verschweigen, das de Vries ein Zeichen gegeben und ihn so erschreckt hat, dass er in den blauen Himmel hineingesprungen ist. Als mir der Vorarbeiter sagte, dass er und die anderen das Mädchen in ihren Aussagen nicht erwähnen würden, glaubte ich ihm. Die Männer hatten Familie. Wenn sie ihren Job verlören, hätte das katastrophale Folgen für sie.
    Aber ich hatte das Kind gesehen. Es reichte mir vermutlich nur bis zur Hüfte und war in Lumpen gekleidet. Sein Anblick hatte die Arbeiter erregt und de Vries so erschreckt, dass er sich umbrachte. So kam es mir vor. Und ich hatte das Kind auch gehört. Es hatte ein tonloses Summen ausgestoßen, das mir in den Ohren wehtat.
    Seine Anwesenheit hatte mir keine Angst eingejagt.
    Nur die Unmöglichkeit seiner Anwesenheit. Ich besitze keine Strategie, um mit etwas umzugehen, das sich eisern jeder Einordnung, Quantifizierung oder Logik widersetzt: etwas, das sich so hartnäckig weigert, in irgendeines der Diagramme zu passen, die ich in meinen Gedanken gezeichnet habe.
    Während Mazoor mich verhört, schaukle ich so vorsichtig wie möglich, damit er es nicht merkt. Ich bleibe ruhig und bin nicht überfordert. Vor mir steht eine Plastikflasche mit Wasser. Ich greife danach und schraube den Deckel ab.
    »Sie haben Kinder«, sagt er unvermittelt. Jetzt hat er mich überrascht.
    »Einen Stiefsohn.«
    »Hmm. Einen gewalttätigen kleinen Jungen.«
    »Was?«
    »Vielleicht wie Sie.«
    »Nein. Ich bin nicht gewalttätig. Freddy ist es auch nicht. Freddy ist ein toller Junge.«
    »Oh, ich halte ihn durchaus für gewalttätig.«
    »Wie kommen Sie darauf?« Er greift nach meinem Hemdärmel

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