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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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deutlicher werden, ohne zu deutlich zu werden. »Kannst du dich erinnern?« Er schüttelt den Kopf. »Du weißt also wirklich nicht, warum sie gestürzt ist?« Er schüttelt den Kopf. Auf einer Gleichgültigkeitsskala von eins bis zehn würde ich ihn bei null einordnen. Professor Whybray wird Notizen von mir erwarten. Aber ich habe nicht mal einen Stift. »Weißt du noch, wie sie gestürzt ist? Oder wie du sie hinuntergestoßen hast? Aus Versehen?«
    Er wischt sich die Nase am Pyjamaärmel ab. »Nee.«
    »Ein Schädeltrauma ist eine schwere Verletzung.« Er knurrt und klopft sein Kissen in eine neue Form. Ich übersetze, falls er mich nicht verstanden haben sollte: »Ich meine, es ist wirklich schlimm.«
    »War es vor den Spaghetti? Oder danach?«
    »Davor. Stephanie und ich wollen nur, dass du dir keine Sorgen machst.«
    Er gähnt und greift nach den Kopfhörern. »Ich mache mir keine Sorgen. Kannst du die CD wieder einschalten?«
    Ich will gerade aufstehen, als mein Blick auf etwas in der Ecke neben der Tür fällt.
    »Das sieht aber wackelig aus.« Ich zeige darauf. Freddy ist ein Sammler, und Dosen sind immer nützlich für ein Kind,das viele kleine Gegenstände aufbewahrt. Daher ist es nicht weiter ungewöhnlich, dass er sie gestapelt hat. Seltsam ist nur, dass er dabei nicht so sorgfältig wie üblich vorgegangen ist. Normalerweise würde er die leeren Dosen in heißem Wasser einweichen, die Etiketten abziehen und mit dem Dosenöffner zweimal um die Kanten fahren, um sie zu glätten. Doch diese Dosen sind noch zu. Ich sehe gebackene Bohnen, Milchreis, Ananasstücke und verschiedene Suppen. Ich denke an einen embryonalen Lagervorrat. »Das ist der schiefe Turm von Pizza«, sagt er. Den hatte er vorhin schon erwähnt. In Verbindung mit de Vries. Er hatte behauptet, er habe ihn in seinem Zimmer. »Er ist noch nicht fertig. Ich brauche mehr Dosen. Er soll bis zur Decke gehen.«
    »Dann musst du den Sockel breiter machen. Du musst mathematisch vorgehen. Es gibt eine Regel. Ich erkläre sie dir morgen.« Ich wuschele ihm durchs Haar, wie ich es immer gemacht habe.
    »Gute Nacht, Freddy K.«
    »Gote Nocht«, sagt der Archaeopteryx. »Schlof goot, Hösköth.«
    Ich liege wach. Das Sofa eignet sich nicht zum Schlafen. Ich mag keine körperliche Unruhe. An einem fremden Ort zu übernachten, verlangt innere Ressourcen von mir, die ich heute Abend nicht aufbringen kann. Ich wälze mich auf dem Sofa, gebe auf und lege mich auf den Boden, wo ich mit Kissen kämpfe und meine hellwachen Beine bewege. Wenn Kaitlin nun stirbt und Freddy mutter- und vaterlos zurückbleibt? Dann wäre er Waise. Wer wird ihm die elf Rosinen auf seinen Joghurt legen? Wer wird seine Fragen über die Welt beantworten? Irgendwo da draußen hat Freddy einen leiblichen Vater. Weiß der Mann überhaupt, dass er einen Sohn hat? Falls Kaitlin sich nicht erholt, wird Stephanie wohl kaumihre Rolle übernehmen wollen, nachdem er seiner Mutter das angetan hat. In Ermangelung eines leiblichen Vaters könnte vielleicht ein Stiefvater sein Vormund werden.
    Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was ich will.
    Freddy braucht einen Vater. Und das muss ich sein.
    Der Schrei der Gryllteiste weckt mich auf. Ich habe sie als Klingelton auf meinem Handy. Es ist 7.18 Uhr am Donnerstag, dem 27. September. Stephanie und ich sind um neun Uhr mit Naomi Benjamin und Professor Whybray verabredet. Dazu wird es nicht kommen.
    »Können wir Sie über Skype erreichen, Hesketh?« Es ist Belinda, Ashoks Sekretärin. »Tut mir leid, dass ich so früh anrufe.«
    »Ich weiß nicht, ob ich eine Verbindung habe. Geben Sie mir fünf Minuten, dann melde ich mich, sobald es funktioniert.«
    Ich sehe nach Freddy, der noch schläft, schalte die Kaffeemaschine ein und fahre den Laptop hoch. Das Internet funktioniert wieder. Vorhersage: Donner, Schauer und Temperaturen zwischen acht und achtzehn Grad. Belinda ist blass und sieht verschwommen aus. Ich stelle den Kontrast um, aber es hilft nicht. Schließlich wird mir klar, dass es kein technisches Problem ist. Der Verzicht auf Make-up kann das Gesicht einer Frau dramatisch verändern.
    Sie sagt: »Hesketh, können Sie kommen und die Stellung halten? Ashok verreist für einige Tage. Eine Familienkrise.«
    »Nein. Nicht heute. Ich habe meine eigene Krise.« Ich erzähle ihr, was Freddy mit Kaitlin gemacht hat.
    Als sie mir ihr Mitgefühl ausdrückt, versagt ihr die Stimme. »Okay, ich telefoniere weiter herum. Ich wollte mit den Leuten

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