Die Daemmerung
zu bewegen. Sie musste gestrauchelt sein, denn plötzlich fiel sie vornüber, und die Bäume verwandelten sich jäh in wirbelnde Strudel aus Schwarz. Einen Augenblick glaubte sie, wieder in der schrecklichen, bröckelnden Erde zu sein, doch dann kam sie durch diese rotierende Dunkelheit auf eine Waldlichtung hinaus. Der silberfarbene Fuchs war stehengeblieben, kauerte jetzt, mit dem Schwanzende zu ihr, vor einem uralten, halb eingestürzten Steinaltar.
Briony wankte hin und fiel auf die Knie. Für einen Traum fühlte sich das alles merkwürdig schmerzhaft an: Sie spürte, wie sich Zweigstücke und Steine in ihre Haut gruben.
»Wer ... wer bist du?«, keuchte sie.
Das Tier drehte sich um. Diesmal gab es keinen Zweifel: Sein Grinsen war spöttisch und angewidert. Der Fuchs schüttelte den Kopf. »Ich sagte es bereits, und ich sage es noch einmal — ich mache mir Sorgen um den Nachwuchs.«
Behende hüpfte das kleine Tier auf die Altarruine und senkte die spitze Schnauze, um den Stein zu beschnüffeln. In der Ferne grollte Donner. »Schau dir das an«, sagte der Fuchs, und in seiner Stimme war etwas Vertrautes, das durch den Nebel von Brionys Traumgedanken drang. »So viel halten die Menschen also von mir, dass meine heiligen Stätten selbst
hier
verfallen? Selbst in den Traumlanden?«
»Lisiya?«, flüsterte Briony. »Seid Ihr das?« Doch schon im Moment, als sie den Namen aussprach, wusste sie, dass es so war.
Der Fuchs drehte sich um; im nächsten Augenblick war das schwarzsilberne Tier verschwunden, und auf dem Altar saß die alte Frau und ließ wie ein Kind die knorrigen bloßen Füße baumeln. »Meinst du Lisiya Melana von der Silbernen Lichtung?«, fragte sie, mehr als nur eine Spur von Ärger in der Stimme. »Schlimm genug, dass du eine Göttin rufst und dann nicht kommst, aber auch noch ihren Namen zu vergessen ...«
»Aber ... aber ich habe Euch nicht gerufen.«
»Und ob du es getan hast, Kind. Drei Nächte hintereinander, obwohl ich dich die ersten paar Male fast nicht hören konnte. Piepsig wie die eines neugeborenen Kätzchens war deine Stimme, aber heute Abend habe ich dich endlich deutlich genug gehört, um dich zu finden.« Wieder grollte Donner über dem Wald, als wollte er Lisiyas Verärgerung untermalen.
Briony konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendetwas falsch verstand. »Ich ... ich habe von Euch geträumt — oder jedenfalls, dass ich hinter Euch herjagte. Durch den Wald. Und durch unterirdische Gänge. Aber ich habe Euch bis eben nicht gesehen, nur Euren ... Schwanz.«
Lisiya stemmte sich von der Altarkante hoch und ließ sich herabplumpsen. Briony zuckte zusammen vor Angst, die knochigen alten Beine der Halbgöttin könnten brechen wie dürre Äste. Es war merkwürdig, sich so wach zu fühlen und doch zu wissen, dass man träumte! Bis auf ein leicht beschwipstes Gefühl, als ob sie mehr Wein getrunken hätte, als ihr gut tat, war alles wie sonst auch.
»Komm mit, Kind. Ob du mich bewusst gerufen hast, spielt wohl keine Rolle. Im Herzen muss dir klar gewesen sein, dass du meiner Hilfe bedarfst.« Briony folgte der Halbgöttin am Altar vorbei und von der Lichtung in den Wald. Wieder donnerte es, und der schwache Widerschein von Blitzen erhellte den Himmel über ihnen. »Unruhig«, bemerkte Lisiya ohne nähere Erklärung.
In vielem war die Wanderung durch den Wald für Briony ebenso traumtypisch wie die Verfolgung ihres Bruders durch die bröckelnde Erde, aber gleichzeitig war sie seltsam normal. Sie fühlte jeden Schritt, jeden Atemzug, selbst den kleinen Schmerz, als sie sich ihren Arm am Stamm einer Eiche aufschürfte.
»Wo sind wir?«, fragte sie schließlich.
»Jetzt gerade? Oder im weiteren Sinne?« Lisiya hatte ein zügiges Gehtempo, und Briony kam nur mit Mühe hinterher. »Wir sind hier ganz nah an den Landen der träumenden Götter — all der alten Götter, die Krummling in den Schlaf hat fallen lassen. Deinesgleichen nennen ihn freilich Kupilas. Auch wir haben ihn nicht immer Krummling genannt — erst nachdem die Drei Brüder und ihre Sippe ihn gefoltert hatten. Bei seiner Geburt bekam er den Namen Heller Schein — ein Sohn der Morgenröte und des Mondlichts, da kannst du dir denken, was für ein hübsches Kind er war. Kein Wunder, dass er seine Onkel so sehr für das hasste, was sie ihm angetan hatten, ganz zu schweigen von den Gemeinheiten, Grausamkeiten und selbst Morden, die sie am Rest seiner Familie begingen.«
Kurz unterbrach sie ein Blitz, der
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