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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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Mylady. Ihr müsst Euch selbst treu bleiben.«

    In dieser Nacht hätte sie eigentlich wie eine Tote schlafen müssen, doch stattdessen wälzte und warf sie sich hin und her, gefangen in weiteren Albträumen von einbrechenden Tunneln und Erde, Erde, Erde unter ihren Fingern. Diesmal war da kein silbernes Etwas, das sie führte, und je länger die Träume anhielten, desto weiter geriet sie in dieses erstickende Dunkel hinab.
    Schließlich fand sie sich an einem tiefen Ort wieder, so tief, dass ihr klar wurde: Sie hatte sich irgendwie auf der anderen Seite der Welt herausgegraben. Jenseits des Fleckchens Boden, auf dem sie stand, war leeres Schwarz wie das eines sternenlosen Himmels, ein Schwarz, in das sie beim kleinsten Fehltritt für immer fallen konnte. Und dort, mitten in diesem dunklen Anderen, fand sie ihren Bruder.
    Er war bleich und bewusstlos wie zuvor. Er lag ausgestreckt vor ihr, so wie Kendrick dagelegen hatte, als ihn die Diener für das Begräbnis zurechtmachten, aber Barrick war nicht tot. Ihr war nicht klar, woher sie das wusste, aber sie wusste es.
    Die drei über ihn gebeugten Gestalten waren keine Diener und auch keine Begräbnispriester, sondern etwas gänzlich anderes — dunkle, augenlose Schatten, die wortlose Gesänge sangen, während sie die Hände über ihm bewegten. Dann hob einer der Schatten Barricks verkrüppelten Arm an sein leeres Gesicht, und ihr Bruder begann zu verblassen.
    Tränen,
flüsterte eine der Gestalten, und das Echo wurde von der feuchten, dunklen Erde ringsum verschluckt.
    Speichel,
sagte eine zweite.
    Blut,
sagte die dritte.
    Sie wollte ihren Zwillingsbruder rufen, ihn wecken und vor dem warnen, was diese schrecklichen Gespenster taten, konnte es jedoch nicht. Sie fühlte die Verwandlung wie Flammen von Barrick Besitz ergreifen, wie ein Lauffeuer, das von seinem Arm zu seinem Kopf und seinem Herzen raste und gleichzeitig brennende Pein durch ihren eigenen Körper jagte. Sie wollte zu ihm stürzen, aber eine unsichtbare Hand hielt sie zurück.
    Barrick!
Ihre Schreie schienen so gut wie lautlos.
Barrick! Komm zurück! Sie dürfen dich mir nicht wegnehmen!
    Und im letzten Moment, als das spinnwebblasse Etwas, das ihr Bruder gewesen war, schon fast unsichtbar war, schlug Barrick die Augen auf und sah sie an. Sein Blick war tot und leer.

    Sie wachte von ihren eigenen Tränen auf, mit dem Gefühl, der wichtigste Teil ihrer selbst wäre ihr mit einem stumpfen Messer herausgeschnitten worden. Eine ganze Weile lag sie nur haltlos schluchzend da. Barrick ... Würde sie ihn wirklich nie mehr wiedersehen? Der Traum hatte sich so schrecklich angefühlt, so endgültig. War ihm etwas Schlimmes zugestoßen? War er ...
    »O Götter, nein!«, stöhnte sie.
    Briony zwang sich aufzustehen. Sie ertrug es nicht, auch nur an die bloße Möglichkeit zu denken. Diese Albträume verfolgten sie, lauerten ihr regelrecht auf. Würde sie denn nie mehr schlafen können, ohne dass eine Parade von Greueln an ihr vorbeizog? So müde, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen vermochte, stolperte sie zu der Truhe, die sie aus ihrer Zeit bei der Schauspieltruppe aufbewahrt hatte: dem verschlossenen Behältnis mit ihren Kleidern von damals und den wenigen Kleinigkeiten, die sich auf ihrer Reise nach Süden angesammelt hatten.
    Briony klappte den Deckel hoch und wühlte den Inhalt durch, die Jungenhosen, die sie getragen hatte, die Flugzettel mit den Vorstellungsankündigungen. Sie wusste nicht, was sie suchte, bis sie es in ihren Fingern fühlte: den zarten Vogelschädel und die winzigen Trockenblumen.
    Lisiyas Talisman in den Händen, kroch sie wieder in ihr Bett. Sie drückte den Talisman fest an ihre Brust und versuchte nicht an die toten Augen des Traum-Barrick zu denken. Eine ihrer Kammerjungfern wimmerte leise im Schlaf, und das war das Letzte, was sie mitbekam, ehe das Dunkel sie wieder verschlang.
    Wieder war sie im Wald, doch diesmal konnte sie das Etwas sehen, das sie schon so lange verfolgte. Es war ein Fuchs, mit dunklem Bauch, aber silbernem Deckfell auf dem ganzen Rücken und Silber auch am Schwanz und am spitzen Kopf. Im Wegrennen drehte er sich zu ihr um, die Zähne zu einem Grinsen gefletscht, das vielleicht auch Erschöpfung sein konnte, aber eher wie Spott aussah. Die Augen des Geschöpfs waren so schwarz wie seine Unterseite, bis auf einen feinen, orangefarbenen Ring.
    Der Fuchs sprang über die Wurzeln, doch Briony vermochte sich nicht einmal im Traum mit solcher Leichtigkeit

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