Die Daemmerung
für ihren Bruder, für sich selbst, für alle, die sie liebte. Briony war so müde, dass sie sich älter und gebrechlicher fühlte als die alte Halbgöttin selbst, doch auch als ihr Herz schließlich im normalen Takt schlug, konnte sie erst einschlafen, als schon fast der Morgen graute.
20
Die Dornenbrücke
Heute leben angeblich die meisten Ettins in der unterirdischen Stadt Erste Tiefen, weit jenseits der Schattengrenze im einstigen Westvuttland. Vor den Jahren des Großen Todes soll sich ihr Lebensraum jedoch sehr viel weiter nach Süden erstreckt haben, mindestens bis ins syanesische Eiluin-Gebirge und die Bergregionen Settlands und Perikals.
Eine Abhandlung über die Elbenvölker Eions und Xands
Ich bin der miserabelste Spion, den die Götter je erschaffen haben,
musste sich Matty Kettelsmit eingestehen.
Wenn mich das erste Mal jemand fragt, was ich hier mache, werde ich kreischen wie ein kleines Mädchen und auf der Stelle in Ohnmacht fallen.
Hier war er noch nie gewesen. Mit seinen unbekannten, hallenden Gängen und uralten Wandteppichen voller grimmig starrender Untiere hätte dieser Teil des Palastes ebenso gut die Höhle eines Ogers im tiefsten Wald sein können, übersät mit den Knochen unvorsichtiger Wanderer. Hinter jeder Ecke schien Unheil zu lauern.
Den Fluch der Götter über Euch, Avin Brone,
dachte er wohl zum hundertsten Mal.
Ihr seid ein Ungeheuer, kein Mensch.
Kettelsmit hatte den Vorstoß in diese beängstigenden Gefilde nur deshalb gewagt, weil die meisten Mitglieder des Haushalts draußen auf den Mauern waren, um irgendeine Teufelei zu beobachten, die die Zwielichtler jenseits des Wassers veranstalteten. Natürlich wäre er auch gern hingegangen, um es mit eigenen Augen zu sehen, aber ihm war klar, dass er diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Bisher hatte Brone alles, was ihm Kettelsmit an Informationen zugetragen hatte, mit Verachtung gestraft, eine Liste der im Palast befindlichen Spiegel als »blühenden Unsinn« abgetan und dem Dichter gedroht, ihn häuten und zu einem Hut verarbeiten zu lassen. Obwohl selbst Kettelsmit es für unwahrscheinlich hielt, dass er in der Werkstatt eines Hutmachers landen würde, bezweifelte er doch nicht, dass die Geduld des Grafen von Landsend allmählich zur Neige ging: Bei der letzten Schimpfkanonade des Mannes hatte ihn jedes einzelne Wort bis ins Mark erschauern lassen.
Doch jetzt wanderte er schon über eine Stunde durch die Hallen des Palastes. Mehrfach hatten ihn neugierige Bedienstete gezwungen, irgendwelche Erledigungen zu erfinden, die ihn hierhergeführt hätten, und zu behaupten, er habe sich verlaufen, und mit jedem Mal war seine Angst gewachsen. Und wenn sie ihn erwischten? Wenn sie ihn vor Hendon Tolly brachten und er lügen musste, während er in diese durchbohrenden Augen blickte? Das würde er niemals schaffen. Matthias Kettelsmit hatte längst begriffen, dass er, auch wenn er Gedichte über Helden wie Caylor schrieb und in bewegenden Worten zu schildern vermochte, wie sie unerschütterlichen Mutes und mit einem Lächeln auf den Lippen vor ihrem ärgsten Feind standen, doch selbst kein Held war.
Nein, ich werde meinen Inquisitoren alles verraten,
gelobte er sich,
lange bevor sich das erste rotglühende Eisen meiner Haut nähert. Ich werde ihnen sagen, dass Brone mich gezwungen hat. Ich werde um mein Leben betteln.
O Götter, wie bin ich in diese böse Falle geraten?
Kettelsmit ging durch einen Türbogen, blieb dann stehen und betrachtete all die Gesichter an den Wänden. Er war in der königlichen Ahnengalerie — aber wie hatte es ihn hierher verschlagen? Die Könige und Königinnen blickten auf ihn herab, manche lächelnd, die meisten jedoch streng und abweisend, als fühlten sie sich von diesem vorwitzigen Grünschnabel gestört. Die frühesten Porträts, die Anglin aus Connord mitgebracht hatte und die im primitiven Stil der frühen Trigonatszeit gemalt waren, wirkten nicht menschlicher als die Bestien auf den Wandteppichen, ganz stierer Blick und maskenhaft starre Züge ...
Plötzlich hörte er draußen auf dem Gang Stimmen. Kettelsmit sah sich panisch um. Er war mitten in einem riesigen Raum — bis er die Tür am anderen Ende erreichte, würden ihn diese Leute längst entdeckt haben. Bestand Hoffnung, dass es auch nur Bedienstete waren und er sich ein weiteres Mal herausreden konnte? Die Stimmen, die immer näher kamen, klangen laut und herrisch. Sein Herz schlug noch schneller.
Da.
In der Wand
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