Die Daemmerung
krachte Donner, direkt über der Hütte, wie es schien. »Das meine ich doch nicht? Ich meine, ich würde alles hingeben, selbst meine Jungfräulichkeit, wenn es meine Familie retten könnte. Ich würde sie sogar unaufrichtig hingeben Aber ich will sie nicht unaufrichtig einem Mann hingeben, der ... wahrhaft gut und anständig ist. Den ich unter anderen Umständen wirklich gern haben könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ergibt das alles irgendeinen Sinn?«
Lisiyas Blick wurde weicher. »Ja, Kind, aber ich glaube, du erzählst mir nicht die ganze Wahrheit.«
»Tue ich wohl?«
»Ich glaube, du hast ihn längst gern. Wie ist sein Name?«
»Eneas, Prinz von Syan. Aber ... es ist ein anderer, den ich gern habe. Oder jedenfalls hatte — ich bin mir nicht mehr sicher.« Briony begann zu lachen, dann war ihr plötzlich zum Heulen zumute, aber das Lachen gluckste trotzdem hervor. »Er und Eneas könnten verschiedener nicht sein, außer dass sie beide herzensgute Männer sind. Er hat keine Beziehungen, keine Aussichten — er ist ein Gemeiner. Und ich glaube nicht einmal, dass er noch lebt. Er ist vor langer Zeit fortgegangen, und fast alle, die mit ihm gingen, sind tot.«
»Dein Problem ist wie ein Apfel, der an einem hohen, dünnen Ast hängt«, sagte die Halbgöttin. »Der Ast ist zu hoch, um ihn vom Boden aus zu erreichen, und zu dünn, um darauf zu dem Apfel hinauszuklettern. Und doch kann man solche Äpfel pflücken, aber man braucht Hilfe. Man kann auf den Astansatz steigen und den Ast so weit hinabdrücken, dass ein anderer vom Boden hochspringen und den Apfel pflücken kann ...«
Briony wollte gerade fragen, was um Zoriens willen dieses Äpfel-und-Äste-Geschwätz bedeuten sollte, als das bislang grellste Blitzlicht durch die Fugen barst und fast gleichzeitig ein ohrenbetäubender Donnerhall Briony und Lisiya auf ihrer Sitzunterlage hüpfen ließ wie Erbsen in einer Schüssel.
Nur dass es kein Donner war, wie Briony mit Entsetzen merkte, während sie sich wieder zu fangen suchte: Was sie gehört hatte, war eine Stimme, zu laut und zu tief, um verständlich zu sein, ein wütendes Brüllen, als ob ein Riese genau über der Hütte stünde und aus den Tiefen der größten Lunge der Welt brüllte.
»Raus, Kind!«, schrie Lisiya. »Sofort?« Sie packte Briony am Arm und zerrte sie zur Tür. Jetzt wurde der Traum zum absoluten Albtraum: So sehr sich Briony auch mühte — die Tür, die doch nur ein, zwei Schritte entfernt sein konnte, blieb unerreichbar. Lisiya war verschwunden, und die Hütte war jetzt das schwarze Innere eines riesigen, gesprungenen Tontopfs, nur von grellen Risslinien erhellt.
»Lisiya, wo seid Ihr?«, schrie Briony.
»Hier! Hier!«
Und dann spürte sie wieder die schwielige Hand der Alten fest um ihre eigene Hand. Sie wurde vorwärtsgezogen, durch jähen Wind in Dunkel, dann hinaus in Licht und den regengepeitschten Wald. Über ihr tobten Blitze, die Schlag auf Schlag den Himmel zerrissen und die Bäume in wild tanzende Silhouetten verwandelten. Die donnernde Stimme, immer noch unverständlich und immer noch fürchterlich nah, drang von allen Seiten auf Briony ein, bis sie glaubte, das bloße Gewicht dieser Stimme würde ihren Schädel wie ein Ei zermalmen.
»Was ist das?«, schrie sie und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, was aber nichts nützte.
»Er erwacht!« Lisiyas schwache Stimme ging in dem tiefen, wortlosen Grollen fast unter. »Lauf!«
»Wer?«, schrie Briony, unter der Gewalt des Sturms und der donnernden Stimme wankend.
»Lauf!«, schrie Lisiya. »Es ist später als ich dachte! Ich hätte dir sagen sollen ...«
»Was sagen?«
»Zu spät. Du musst zu den Steinleuten gehen ... sie müssen dich zu ihrer alten Trommel bringen ... ihrer Steintrommel!«
Und damit war die Halbgöttin verschwunden. Blätter und abgefetzte Äste wirbelten durch die Luft, schlugen ihr ins Gesicht wie wütende Hände, kratzten sie und machten sie beinah blind. Doch im kurzen, grellen Licht der Blitze konnte sie eines sehen: eine riesige schwarze Silhouette, die weit über die Bäume emporragte und den Himmel verdunkelte.
Briony schützte ihren Kopf mit den Händen und rannte, rannte, durch ein Chaos aus umstürzenden Bäumen und umherfliegenden Ästen, durch Luft, die von grollendem Gelächter vibrierte.
Diesmal erwachte sie ohne zu schreien, aber schweißgebadet und mit so wild pochendem Herzen, dass ihr Brustkorb schmerzte. Lisiyas Talisman fest an sich gedrückt, lag sie da und betete
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