Die Daemmerung
Götter?,
fragte sich Matty Kettelsmit.
Gingen manche Sterbliche eigens zum Schlachtfeld, um zuzuschauen, ganz gleich, ob es womöglich das Ende der Welt bedeutete?
Noch so ein ausgefallener, interessanter Gedanke — schon der zweite heute, aus dem ein Gedicht werden könnte. Einen Augenblick lang vergaß er schon fast, dass das, was er gleich mit eigenen Augen sehen würde — was immer es war —, seinen Drachen von Mutter in ein Häuflein nackter Angst verwandelt hatte.
Aber was konnte das sein? Da war doch nur Nebel und Rauch. Warum sollte das so vielen Leuten Furcht einjagen?
Er schlüpfte am
Dachsenstiefel
vorbei, der noch lauter als sonst von hitzigen Diskussionen und Klagemonologen dröhnte. Kurz war er versucht, einfach hineinzugehen und den Rest des Geldes, das ihm Brone gegeben hatte, zu vertrinken — schließlich ging ja die Welt unter, wäre es da nicht vielleicht besser, einfach alles zu verschlafen? Seines Wissens stand im Buch des Trigon nichts, was es eindeutig untersagte, am Schicksalstag betrunken zu sein.
Ach, aber wenn er nun lange auf den Richtspruch warten musste? Bei einer weltweiten Katastrophe würden die Leute doch zweifellos in langen Schlangen um ihr Urteil anstehen, so wie wenn der König während einer Hungersnot Korn verteilen ließ.
Und dann nicht mal betrunken — bis dahin wäre ich wieder nüchtern, mit trockenem Mund und pochendem Schädel.
Götter — es war schon schlimm genug, sich Brones Gebrüll mit klarem Kopf stellen zu müssen: Wie viel schlimmer noch, vor Perin selbst zu stehen, dem Herrn der Unwetter, dessen Hammer Donnerschläge erzeugte!
Im Gässchen hinter dem Wirtshaus angelangt, erklomm Kettelsmit die Böschung zum Fuß der mächtigen Mauer und arbeitete sich dann langsam zu dem stillgelegten Wachaufgang vor. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass mindestens ein Dutzend Ortskundige dieselbe Idee gehabt hatten. Einer, ein finster aussehender junger Mann mit einer Lederschürze, beugte sich sogar herab, um Kettelsmit die kaputten Trittstufen hinaufzuhelfen.
Von hier aus hatte man einen ungehinderten Blick auf große Teile von Südmarkstadt. Die Aktivität schien sich jedoch vor allem an dem Ende abzuspielen, das Südmarksburg am nächsten lag: am Strand neben den Überresten des zerstörten Dammwegs. Die Nebelsuppe, die Kettelsmit bereits gesehen hatte, hatte sich ausgebreitet, und in ihrer Tiefe sah er jetzt Lichtschimmer, weniger wie flackernder Feuerschein, eher wie das stete Glühen geschmolzenen Metalls. Doch was er für seltsam starre, schwarze Rauchsäulen gehalten hatte, war nichts dergleichen.
Mächtige schwarze Bäume waren aus dem Nebel gesprossen, mit Ästen wie knotige Finger, so als griffen ein Dutzend Riesenhände aus den trüben Schwaden nach den Mauern jenseits des schmalen Buchtarms. Die klauenartigen Äste bogen sich zum Wasser hin, wuchsen eindeutig in Richtung Burg, dahin, wo Kettelsmit und die anderen in stummem Entsetzen von der Mauer aus zusahen.
»Was sind das für götterverfluchte Dinger?«, fragte schließlich jemand. Ein junger Mann, der dafür eigentlich schon zu alt war, begann zu schluchzen — tief aus der Brust kommende, schmerzhaft klingende Laute, wie Zehrhusten.
»Nein«, war alles, was Matty Kettelsmit herausbrachte, während er übers Wasser starrte. Die Dinger, Bäume oder was auch immer, waren doppelt bis dreimal so groß geworden, seit er sie von dem Palastfenster aus gesehen hatte. Nichts auf der Welt wuchs doch so schnelli. »Das kann nicht wahr sein.« Aber natürlich war es wahr.
Danach sprach niemand mehr etwas außer Gebeten.
Der Nebel war ja schon beunruhigend genug — er kam überall und nirgends her und machte die Welt draußen so unheimlich wie die düsteren, kahlen Fluren rings um die mächtige Burg des Kernios in den Geschichten, die Utta als kleines Mädchen erzählt bekommen hatte —, aber das Schlimmste waren die Geräusche: ein tiefes Ächzen und Knarren, das sie bis ins Mark erschauern ließ, so als ob ein riesiges Schiff, tausendmal größer als jedes von Menschen gebaute, an ihrem Fenster vorbeisegelte, nur ein paar Handbreit entfernt, aber unsichtbar im dichten, kalten Nebel.
»Was
ist
das für ein grässliches Geräusch?« Utta begann wieder, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Haben sie so eine — wie nennt man das noch mal — Belagerungsmaschine gebaut? Einen dieser monströsen Türme, die man an Burgmauern rollt? Aber warum sollten ihn die Zwielichtler die ganze Nacht am
Weitere Kostenlose Bücher