Die Daemmerung
aber immer noch nicht an. Irgendwo in den oberen Stockwerken hörte er einen Säugling schreien. »Ihr seid drollig, Meister Kettelsmit, aber Ihr tut Eurer Mutter unrecht. Sie ist eine brave Frau ... auf ihre Art. Sie hat sich bemüht, das Beste für mich zu tun, wenn wir auch nicht immer einer Meinung sind, was das Beste für mich ist.« Sie machte ein missmutiges Gesicht. »Und sie ist äußerst knauserig. Der Dörrfisch, den sie mir bringt ... ich kann Euch gar nicht sagen, wie der riecht. Er muss dort gefangen worden sein, wo die Abtrittgruben des Palastes in die Lagunen entleert werden.«
Kettelsmit musste lachen. »Ihr habt es doch gehört. Sie spart beim Einkaufen, damit sie die übrigen Münzen bei der nächsten Gelegenheit in die Opferschalen werfen kann. Für eine so fromme Frau scheint sie erstaunlich überzeugt, dass die Götter so dumm sind wie törichte Kinder und ständig daran erinnert werden müssen, was sie alles für sie tut.«
Elans Gesichtsausdruck änderte sich. »Vielleicht hat sie ja recht, und wir sind im Unrecht — die Götter scheinen sich in der Tat nicht sonderlich um die Sterblichen zu kümmern. Ich würde es nicht wagen, die Götter dumm oder töricht zu nennen, Meister Kettelsmit, aber ich muss gestehen, dass ich mich schon lange frage, ob sie zu abgelenkt sind, um hier auf Erden Ordnung zu halten.«
Das war ein interessanter Gedanke. Kettelsmit verspürte den Drang, sich damit zu beschäftigen — der Frage nachzugehen, was die Götter davon abhalten könnte, sich um ihre eigene Schöpfung zu kümmern, sodass die Menschen führungslos ihrem Leid und ihren Zweifeln überlassen waren. Vielleicht würde er sogar ein Gedicht daraus machen.
So etwas wie »Die schweifenden Götter«,
dachte er.
Nein, vielleicht besser »Die schlafenden Götter« ...
Die Tür flog so jäh auf, dass Kettelsmit zusammenfuhr und Elan leise aufschrie. Anamesiya Kettelsmit knallte die Tür noch heftiger hinter sich zu, fiel dann auf dem Holzboden auf die Knie und begann laut zum Trigon zu beten. Durch die Geräusche aufgeschreckt, fing der Säugling oben wieder an zu schreien.
»Was ist?« Kettelsmit war sofort klar, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste: Seine Mutter verbrachte normalerweise mehr Zeit damit, das Plätzchen, wo sie sich hinknien wollte, zu säubern, als mit Beten selbst. »Mutter, sprich mit mir?«
Sie blickte auf — es war ein Schock, das vertraute, grobknochige Gesicht so bleich zu sehen. »Ich hatte gehofft, du würdest noch Zeit haben, für alle deine Sünden Buße zu tun«, sagte sie heiser. »Mein armer, verirrter Sohn.«
»Wovon sprichst du?«
»Das Ende, das Ende? Ich habe es nahen sehen! Dämonen, ausgesandt, uns zu vernichten, weil wir die Götter erzürnt haben.« Sie senkte den Kopf wieder zum Gebet und war zu keiner Antwort mehr zu bewegen, so viele Fragen er ihr auch stellte.
»Ich gehe nachsehen, was los ist«, erklärte er Elan.
Kettelsmit zog die Tür hinter sich fest ins Schloss und ging dann hinaus auf die Straße. Er folgte zuerst den aufgeregten Menschenscharen, die zum nächstgelegenen Stück der äußeren Ringmauer am Hafen zu streben schienen, wandte sich dann aber gegen den Strom und in Richtung der Marktstraßenbrücke, die über den Kanal zwischen den Lagunen führte. Wenn drüben in Südmarkstadt irgendetwas vor sich ging, sah man es ebenso gut von der äußeren Mauer hinter dem
Dachsenstiefel,
einer Schenke nahe dem Ende der Nordlagune, wo er mit Kennit und den anderen manche Nacht verbracht hatte. Das Gässchen hinter dem Wirtshaus kannte kaum jemand, weshalb er und seine Trinkkumpane gern mit Schankhuren dorthin gegangen waren.
Im Gehen schnappte er Gesprächsfetzen auf. Die meisten Leute, die ihm entgegenkamen, hatten nur Gerüchte gehört und wollten sich jetzt selbst ein Bild machen. Manche waren regelrecht panisch, murmelten Gebete und riefen die Götter an, andere dagegen wirkten fast so unbesorgt, als wären sie auf dem Weg zu den Zosimia-Volksbelustigungen.
»Ein Zeichen?«, sagten etliche. »Die Erde selbst ist gegen uns?«
»Wir werden sie zurückschlagen«, riefen andere. »Wir werden sie lehren, was südmärkische Männer sind!« Einige Auseinandersetzungen entwickelten sich zu Schlägereien, vor allem, wenn die Kontrahenten betrunken waren. Die Sonne hinter den hohen Wolken hatte den Zenit kaum überschritten, doch weit mehr Leute als sonst schienen schon früh mit dem Trinken begonnen zu haben.
War es so beim großen Krieg der
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