Die Daemmerung
Strand hin- und herschieben? Von diesem Geräusch hatte ich so schlimme Träume!« In einem davon hatte ihre Familie, die sie vor Jahrzehnten verlassen hatte, an der Reling eines langen, grauen Schiffs gestanden und sie angefleht, auch an Bord zu kommen, doch selbst im Traum hatte Utta an den stumpfen Augen erkannt, dass sie alle tot waren, dass sie sie in die Unterwelt mitnehmen wollten. Sie war mit furchtbarem Herzrasen aufgewacht und hatte einen Moment lang tatsächlich befürchtet, ihr letztes Stündlein sei gekommen.
»Schwester, Ihr macht mich verrückt mit Eurem Hin- und Hergelaufe!«, beschwerte sich Merolanna. In den ersten Tagen, nachdem sie in diesem verlassenen Kaufmannshaus an der Brennsbucht eingesperrt worden waren, hatte die Ältere tagelang geputzt, als minderte jedes weggewischte Stäubchen die Macht der Zwielichtler und ihrer dunklen Herrin über sie. Aber natürlich war es genau umgekehrt: Je mehr die Herzogin putzte, desto schwerer ließ sich ignorieren, dass sie, wenn es nichts mehr zu putzen gab, noch immer Gefangene sein würden. Und jetzt, da das Haus so sauber war, wie es Merolanna irgend hatte bewerkstelligen können, schien die Ältere in eine Art Trübsinnsstarre verfallen zu sein. An den meisten Tagen erhob sie sich kaum je aus ihrem Stuhl, obwohl sie durchaus noch in der Lage war, sich darüber zu beschweren, dass Utta auf und ab ging oder, wie sie fand, ungebührlichen Lärm machte.
Barmherzige Zoria, gib uns beiden Kraft,
betete Utta.
Es ist nur die Bedrängnis, die uns so aufeinander herumhacken lässt.
Nicht nur waren sie bisher der Hinrichtung entgangen, man hatte sie auch in einem geräumigen, dreistöckigen Haus untergebracht und ihnen die nötigen Nahrungsmittel gegeben, um ganz akzeptable Mahlzeiten zuzubereiten. Trotzdem stand außer Zweifel, dass sie Gefangene waren: Zwei schweigende Wachen, so seltsam und bedrohlich wie Dämonen auf einem Tempelrelief, standen ständig draußen vor der Haustür. Ein dritter Wächter war auf dem Dach postiert, wie Utta eines Tages hatte feststellen müssen, als sie ein paar Sonnenstrahlen nutzen wollte, um Wäsche zu trocknen. Sobald sie, das Bündel feuchter Kleidungsstücke an die Brust gedrückt, auf den Balkon hinausgetreten war, war die Kreatur vom Dach herabgesprungen und hatte ihr einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie geglaubt hatte, sie würde auf der Stelle tot umfallen.
Dieser Zwielichtler war anders gewesen als die anderen Wachen — weniger menschenähnlich, mehr wie eine Art rasierter Affe oder eine Echse, mit Krallen, die aus den Handschuhfingern ragten, einer Art Hundeschnauze und bernsteinfarbenen Augen ohne Pupille. Er hatte so wütend geknurrt und mit seiner blattförmigen Klinge gefuchtelt, dass Utta ihm gar nicht erst die Harmlosigkeit ihres Vorhabens zu demonstrieren versucht hatte, sondern gleich wieder hineingeeilt war.
Was glauben diese Kreaturen, was wir vorhaben?,
hatte sie sich an jenem Tag gefragt, als sie die Treppe zum Hauptwohnraum hinuntergewankt war.
Vom Balkon
zu
springen und davonzufliegen? Und hätte er mich getötet, um mich daran zu hindern?
Sie war sich bedrückend sicher, dass es genau so war.
»Warum halten sie uns gefangen?«, fragte Utta, während die beunruhigenden Geräusche anhielten. »Wenn diese Frau in Schwarz — ihre Königin oder was sie auch sein mag — unseresgleichen so sehr hasst, warum tötet sie uns dann nicht einfach, und fertig?«
Merolanna schlug das Zeichen der Drei auf ihrem Busen. »Sagt so etwas nicht? Vielleicht will sie uns ja auslösen lassen. Normalerweise würde ich ja sagen, nein, niemals, aber ich gäbe viel darum, wieder in meinem eigenen Bett liegen und die kleine Eilis und die anderen sehen zu können. Ich habe Angst, Schwester.«
Utta hatte auch Angst, glaubte aber nicht, dass sie festgehalten wurden, um Lösegeld zu erpressen. Was konnten die blutrünstigen Qar schon für eine Herzoginwitwe und eine Zorienschwester fordern wollen?
Es klopfte, und gleich darauf wurde die Tür des Hauptwohnraums geöffnet. Es war der seltsame Halb-Zwielichtler-halb-Mensch, der sich Kayyin nannte.
»Was wollt Ihr?« Merolanna klang ärgerlich, doch Utta wusste, dass das nur ihr Erschrecken über den unerwarteten Besuch überspielen sollte. »Will sich Eure Herrin vergewissern, dass wir leiden? Sagt Ihr, das Haus könnte zugiger sein — aber nur unwesentlich.«
Er lächelte — so ziemlich der einzige Gesichtsausdruck, der ihn fast ganz wie einen Menschen aussehen
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