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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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ließ. »An Euch liegt ihr immerhin genug, um Euch einzusperren. Von mir hält sie so wenig, dass ich frei herumlaufen darf wie eine Eidechse an der Wand.«
    »Was geht da draußen vor sich, Kayyin?«, fragte Utta. »Da sind schon den ganzen Morgen so grässliche Geräusche, aber sehen können wir nichts außer diesem Nebel.«
    Kayyin zuckte die Achseln. »Wollt Ihr es wirklich sehen? Es sind finstere Dinge. Dies sind finstere Zeiten.«
    »Was meint Ihr? Ja, wir wollen es sehen!«
    »Gut, dann kommt«, sagte er wie jemand, der einem verrückten Ansinnen stattgibt. »Ich werde es Euch zeigen.«
    Sie folgten seiner geschmeidigen Gestalt die Treppe hinauf und auf den Balkon hinaus, den Utta seit der Begegnung mit dem reptilienartigen Wächter gemieden hatte. Von hier oben konnte man sehen, wie tief der Nebel hing, wie eine schlampig über ein Bett geworfene Daunendecke. Das Ächzen und Knarren schien hier noch lauter, und zunächst war Utta so gebannt von der Aussicht — der riesigen Nebelwolke und dahinter der Bucht und den fernen Türmen der Südmarksburg, ihres unerreichbaren Zuhauses —, dass sie den monströsen Wächter ganz vergaß. Doch plötzlich schwang er sich vom Dach auf den Balkon herab.
    Merolanna schrie erschrocken auf und wäre umgekippt, hätte Utta sie nicht gestützt. Der Wächter schwenkte sein kurzes, breites Schwert und fauchte sie an — es war schwer auszumachen, ob er eine fremde Sprache sprach oder einfach nur drohende Laute ausstieß. Seine Zähne waren so lang und spitz wie die eines Wolfs.
    Kayyin aber war ungerührt. »Geh, Schnauz. Sag deiner Herrin, ich habe die Damen hier herausgebracht, damit sie etwas Luft schnappen können. Wenn sie will, soll sie mich dafür töten. Ansonsten lass uns in Ruhe.«
    Das Wesen starrte ihn grimmig an, aber es war mehr als nur das drohende Funkeln eines wütenden Tiers.
    Was sind das für Kreaturen,
fragte sich Utta unwillkürlich,
diese ... Zwielichtler? Sind sie von den Göttern erschaffen? Sind es Dämonen, oder haben sie eine Seele so wie wir?
    Die Kreatur schnaubte warnend, kletterte dann so schnell wieder aufs Dach, wie sie herabgekommen war, und verschwand.
    »Oh, beinah wäre mir das Herz stehengeblieben!« Merolanna entwand ihren Arm Uttas Griff und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu. »Was war das?«
    Kayyin schien belustigt. »Ein Lernender aus der Sippe der Tugendhaften Krieger — Vettern von mir übrigens. Aber er weiß, dass ich unantastbar bin, und mein Schatten scheint auch auf Euch beide zu fallen.« Es klang, als wäre er sich nicht ganz sicher gewesen, dass ihm die Kreatur gehorchen würde, und Utta fragte sich, wie leicht es ihnen hätte passieren können, wieder hineingescheucht zu werden ... wenn nicht Schlimmeres.
    »Wie könnt Ihr ein solches Ungeheuer Euren Vetter nennen?« Merolanna fächelte sich immer noch so energisch, als wollte sie zugleich die hässliche Erinnerung wegwedeln. »Ihr seid überhaupt nicht so, Kayyin. Ihr seid fast wie ... einer von uns.«
    »Aber ich wurde so geformt, Herzogin.« Kayyin senkte den Kopf. »Mein Herr wusste, dass ich lange unter Euresgleichen sein würde, deshalb verlieh er mir die Gabe der Wandelbarkeit, um mich ... das ist schwer zu erklären ... so weich zu machen wie Brotteig, damit ich ähnliche Gestalt annehmen konnte wie jene um mich herum. So blieb ich jahrelang — eine armselige Kopie, aber hinreichend —, bis ich wieder erweckt wurde.«
    »Erweckt wozu?« Es war das erste Mal, dass Utta von so etwas hörte. Sie hatte Kayyin einfach nur für eine Laune der Natur oder eine Frucht geschlechtlicher Begegnungen zwischen Zwielichtlern und Menschen gehalten.
    Kayyin schüttelte den schmalen Kopf. Jetzt, da Utta genauer hinsah, wurde ihr bewusst, dass da wirklich etwas Sonderbares an ihm war — das völlige Fehlen besonderer äußerer Merkmale. In seiner Abwesenheit konnte sie sich nie erinnern, wie er aussah. »Die Antwort darauf weiß ich selbst nicht«, sagte er. »Mein König wollte, wenn irgend möglich, einen Krieg zwischen Eurer und meiner Art verhindern, aber ich glaube nicht, dass ich dafür viel getan habe. Es ist, ehrlich gesagt, ein Rätsel.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Ah, da — hört Ihr? Es geht wieder los.«
    Er trat ans Balkongeländer, und Utta folgte ihm. Jetzt hörte sie es auch — die dumpfen Knarrgeräusche, die sie und Merolanna schon den ganzen Tag plagten. Unter ihrem Balkon, tief im brodelnden Nebel, glühte ein verschwommenes Licht auf und

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