Die Daemmerung
zornig. Als Chert durch die Vorhalle ging, hatte er plötzlich eine Vorahnung, was ihn dort erwarten würde.
Zu seinem Leidwesen behielt er recht: Flint stand inmitten einer Schar dunkelgekleideter Mönche, einen halben Kopf größer als die meisten von ihnen und so gelassen wie ein mächtiger Stein in der Mitte eines tosenden Flusses. Der Blick des Jungen richtete sich kurz auf Chert, wanderte dann aber weiter über die Wände, als taxierte er eine Steinfläche vor dem Meißeln eines Bandfrieses.
»Was ist hier los?« Chert hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er wusste ja, der Junge war ungewöhnlich — ihm zog sich immer noch manchmal der Magen zusammen, wenn er daran dachte, wie leichtsinnig er und Opalia das Kind in ihr Leben geholt hatten —, aber er hatte nie auch nur ein Fünkchen Bosheit in ihm entdeckt. Die Metamorphose-Brüder taten so, als hätten sie einen Dieb oder Mörder erwischt.
Bruder Nickel drehte sich mit hochrotem Gesicht zu ihm um. »Das übersteigt jedes Maß, sogar für Euch, Blauquarz«, fauchte der Mönch. »Dieses Kind ist in die Bibliothek spaziert — die größte noch existente Bibliothek unseres Volkes auf der ganzen Welt? — und hat angefangen, die Texte zu befingern. Mit seinen schmutzigen Händen?«
Trotz seiner eigenen Wut war Chert erschüttert: Unbefugtes Betreten der Bibliothek war nicht einfach nur ein Dummejungenstreich. Es war noch schlimmer, als in die Mysterien einzudringen, denn die Bücher der Bibliothek — darunter uralte Gebetstexte, mit so flachen Buchstaben in zerbrechlichen Schiefer geritzt, dass man sie kaum noch entziffern konnte, oder in pergamentdünne Glimmerblätter radiert — waren kostbar und leicht zu beschädigen. Die große Funderlingsbibliothek von Druntstein, einer Siedlung, die jahrhundertelang unterhalb des alten Hierosol bestanden hatte, war wie auch der Großteil der Stadt bei der Flut vor vier Jahrhunderten zerstört worden; fast die Hälfte der Einwohner der Unterstadt hatten ihr Leben lassen müssen, und die gesamten Bestände der Bibliothek waren verlorengegangen. Die Druntstein-Flut war, wie man Chert gelehrt hatte, seit er des Laufens mächtig gewesen war, die größte Tragödie in der Geschichte der Funderlinge. Kein Wunder, dass die Mönche so aufgebracht waren.
»Flint«, sagte er, so ruhig er konnte. »Bist du in die Bibliothek gegangen? Hast du die Bücher angefasst?«
Der hellhaarige Junge sah ihn an, als hätte er ihn gefragt, ob es ratsam sei zu essen, wenn man Hunger habe. »Ja.«
»Seht Ihr?«, rief Nickel. »Er schämt sich nicht einmall. Zuerst bricht er in die Mysterien ein wie ein feindlicher Eindringling, und dann, weil ihm dieser Frevel noch nicht genügt, kommt er auch noch hierher, um sich am Gedächtnis unseres Volkes zu vergehen.«
Chert rang um Beherrschung. »Mit Eurer Wortgewalt werdet Ihr gewiss eines Tages Abt, Nickel, aber lasst uns nicht gänzlich den Kopf verlieren. Flint, warum hast du das getan?«
Der Junge sah ihn jetzt an, als ob er tatsächlich ein wenig überrascht wäre — etwas, das Chert bei ihm kaum je gesehen hatte. »Ich musste etwas wissen. Ich bin mir die ältesten Bücher anschauen gegangen. Es ist wichtig.«
»Was? Was wolltest du wissen?«
»Das kann ich dir nicht sagen.« Das kam so klar und entschieden, dass Chert wusste, jede Diskussion wäre sinnlos. Die versammelten Brüder murmelten jetzt nicht mehr nur, sondern drängten auf den Jungen ein, als wollten sie ihm auf der Stelle seine Strafe verabreichen. Chert trat vor Flint und hob die Hände.
»Es war ihm nicht klar. Er meint es nicht böse, aber er ... er ist anders.« Er schämte sich, dass er einfach so klein beigab, aber es war keine Zeit zu verlieren. »Ich werde ihn mitnehmen. Ihr werdet keinen Ärger mehr mit ihm haben — das verspreche ich Euch bei meiner Ehre als Zunftmitglied. Geht einfach ... Euren eigenen Angelegenheiten nach.«
»Wie sollen wir Euch vertrauen?«, wollte Nickel wissen. »Ihr habt ihn einfach überall herumlaufen lassen, habt geduldet, dass er seine Nase in die Angelegenheiten frommer Männer steckt ...«
»Dieser Tempel und Funderlingsstadt werden angegriffen«, sagte Chert laut. »Und das wisst Ihr so gut wie ich, Bruder Nickel. Wir haben ganz anderes zu fürchten als diesen Jungen — Ihr solltet diese Männer dazu bringen, den Tempel zu verteidigen, statt über ein Kind herzufallen. Kann ich jetzt gehen? Es tut mir sehr leid, dass Flint die Bücher angefasst hat, aber wie es aussieht, ist ja
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