Die Daemmerung
einmal mit Gewalt vom Schlachtfeld schleifen lassen, also ging Chert schließlich allein zum Tempel zurück. Die Metamorphose-Brüder hatten bereits von dem Kampf gehört, und fast alle wollten von Chert Genaueres darüber wissen, wobei etliche ihn für so eine Art Helden zu halten schienen. In einer anderen Situation hätte er die Aufmerksamkeit wahrscheinlich genossen, jetzt jedoch war er zu verängstigt und zu müde, um irgendetwas anderes zu wollen, als endlich in sein Zimmer zu kommen. Er hatte, wenn auch nur kurz, einige der Qar-Krieger von nahem gesehen, und er wusste, dass da noch Tausende weiterer waren, die die oberirdische Südmarksburg belagerten. Er hatte eine kleine Zahl dieser Angreifer mit einem Sprengklöppel erwischt, doch das nächste Mal würde es keinen solchen Überraschungseffekt geben. Vielleicht hatten die Drags sogar selbst Felssprengpulver.
Chert war schon fast bei seinem Zimmer, als ihm Flint einfiel, den er ja bei dem Arzt gelassen hatte. Müde schleppte er sich den Gang wieder zurück, doch als er an Chavens schwere Tür klopfte, kam keine Antwort. Er drückte die Klinke: Die Tür war weder abgeschlossen noch verriegelt. Von jäher Angst erfüllt, öffnete er sie.
Chaven lag bäuchlings auf dem Boden, als wäre er mit einer Keule niedergeschlagen worden; von Flint keine Spur. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Chert, der Arzt wäre tot, doch als er sich neben ihn kniete, hörte er Chaven leise stöhnen. Chert goss kaltes Wasser in eine Schüssel, fand einen Lappen und beträufelte die hohe, bleiche Stirn des Arztes.
»Wacht auf!« Er schüttelte Chaven, der doppelt so groß war wie er, nach besten Kräften. »Wo ist mein Junge? Wo ist Flint?«
Chaven stöhnte, wälzte sich herum und setzte sich mühsam auf »Was?« Er blickte sich in seinem Zimmer um, als hätte er es noch nie gesehen. »Flint?«
»Ja, Flint? Ich habe ihn hier bei Euch gelassen. Wo ist er? Was ist passiert?«
Chaven schien nichts zu verstehen. »Passiert? Nichts ist passiert. Flint, sagt Ihr? Er war hier?« Er schüttelte so langsam den Kopf wie ein müdes Pferd, das eine lästige Fliege loszuwerden versucht. »Nein, wartet — er
war
hier, natürlich war er hier. Aber ... ich weiß nicht, was passiert ist. Ist er weg?«
Chert hätte beinah den nassen Lappen nach ihm geworfen. Er suchte rasch das kleine Zimmer ab, um sicherzugehen, dass sich der Junge nirgends versteckte. Er fand ihn nicht, entdeckte aber in einer Ecke des Raums einen kleinen Handspiegel und einen Kerzenstummel am Boden. Er roch am Kerzendocht. Die Kerze war erst vor kurzem gelöscht worden.
»Was ist das hier?«, fragte er den verwirrten Arzt. »Habt Ihr wieder einen Eurer Spiegeltricks mit ihm veranstaltet? Habt Ihr ihm solche Angst gemacht, dass er weggelaufen ist?«
Chaven sah gleichzeitig beleidigt und betroffen drein. »Um ehrlich zu sein, ich kann mich nicht erinnern. Aber ich würde nie einem Kind weh tun oder Angst machen, Chert — das solltet Ihr doch wissen.«
Chert dachte an die Schreckensschreie des Jungen, als der Arzt das letzte Mal seine Spiegelzaubereien an ihm ausprobiert hatte.
»Pff!
Er ist weg, das ist alles, was ich weiß. Habt Ihr gar keine Ahnung, wo er sein könnte? Wie lange er schon weg ist?«
Doch Chaven war völlig perplex und keine Hilfe. Er blickte nur von einer Ecke des Zimmers in die andere und rieb sich die Augen, als wäre ihm selbst die Düsternis im Raum zu hell.
Als Chert suchend durch die Gänge eilte, fiel ihm plötzlich die Bibliothek ein. Flint hatte sich und ihn schon einmal in Schwierigkeiten gebracht, indem er dorthin gegangen war. Was wäre wahrscheinlicher, als dass er auch diesmal dort gelandet war?
Zu seiner immensen Erleichterung fand er den Jungen an einem der Tische in einen offenbar ganz normalen Kinderschlaf gesunken, den Kopf auf einem unersetzlichen Buch, einer uralten Sammlung mit flachen Ritzsymbolen gefüllter Glimmerplättchen, dünner als Pergament. Als Chert den Kopf des Jungen anhob, um die Seiten vorsichtig unter ihm herauszuziehen, warf er einen Blick auf die uralte Schrift. Lesen konnte er sie nicht — dazu war sie zu alt und sonderbar —, aber sie erinnerte ihn an die Ritzzeichnungen, die er an den Wänden tief in den Mysterien gesehen hatte. Was hatte der Junge damit gewollt? War ihm überhaupt bewusst, was er da tat? Manchmal benahm sich Flint, als wäre er zehnmal so alt, wie er war, dann wieder schien er einfach nur ein Kind.
»Wach auf, Junge«, sagte er
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