Die Daemmerung
Hand weg, als die Zorienschwester sie bremsen wollte. »Nein. Sie wird mich anhören. Ich lasse mich nicht aufhalten?«
»Wenn Schnauz und seine Wächterkameraden nicht für die Belagerung abgezogen worden wären«, sagte Kayyin heiter, »wärt Ihr nicht einmal zur Haustür hinausgekommen.«
Merolanna zog lediglich eine Grimasse, die man bei jeder anderen Person als einer ehrwürdigen Herzoginwitwe ein Zähnefletschen genannt hätte.
Die gesamten Hafenanlagen dort, wo der versunkene Dammweg vom Festland zur Burg führte, waren jetzt ein einziges albtraumhaftes Chaos. Kreaturen verschiedenster Größe und Gestalt eilten im Nebel hin und her, und über allem dräuten die ausladenden, knarrenden, baumdicken Äste der Dornenhecke wie das deformierte Gerippe eines einstürzenden Tempels. Merolanna, deren Rock jetzt bis über die Knie schlammverspritzt war, ließ sich auch von den groteskesten Wesen, die aus der Nebelsuppe auftauchten, nicht beirren, sondern stapfte voran wie ein entschlossener Soldat, auf das schwarz-goldene Zelt zu, das etwas für sich in der Mitte des Ganzen stand.
Sie ist tapfer,
dachte Utta,
das muss man ihr lassen. Doch die Person, zu der sie will, ist nicht irgendein Menschenmann, der vor einer aufgebrachten alten Frau kuscht. Wenn es stimmt, was Kayyin sagt, ist die dunkle Fürstin selbst älter, als wir es uns vorstellen können — das Kind eines Gottes. Und sie ist — barmherzige Zoria — auch wütender und rachedurstiger, als unsereins es sich auszumalen vermag.
Wären da nicht die seltsamen Geschehnisse des letzten Jahres gewesen, die verrückten Dinge, die sie mit eigenen Augen gesehen hatte, hätte Utta das Gerede des Qar von Göttern und Feuerblumen und unsterblichen Geschwistern als Unsinn abgetan ... aber nichts anderes erklärte, was sie erlebt hatte und was jetzt um sie herum geschah? Für Utta Fornsdodir, die sich für eine gebildete Frau hielt — für eine Frau, die trotz ihrer religiösen Berufung zwischen den wichtigen Wahrheiten, die in den alten Geschichten steckten, und deren alberner, abergläubischer Verkleidung in manchen dieser Geschichten wohl zu unterscheiden wusste war dies eine erschütternde, ja verstörende Zeit gewesen.
Yasammez stand vor ihrem Zelt wie die Statue eines Nachtmahrs, ganz in einer stachligen, schwarzen Rüstung, am Gürtel ein blankes, elfenbeinfarbenes Schwert. Sie beobachtete etwas hoch droben in der nebelverhangenen Dornenbrücke, das Utta nicht sehen konnte, und wandte nicht einmal den Kopf, als Merolanna stolpernd vor ihr zum Stehen kam und sich langsam und mühsam auf die Knie hinabließ. Dünne, hohe Laute, die vom Wind hätten kommen können, wehten über das stumme Tableau, aber Utta wusste, es war nicht der Wind. Innerhalb der Mauern von Südmarksburg töteten die Zwielichtler Männer, Frauen und Kinder.
»Ich kann diese Grausamkeit nicht länger hinnehmen?« Merolannas Stimme, eben noch so fest, hatte jetzt etwas Stockendes, das, wie Utta spürte, mehr war als nur Angst. Etwas an dieser dunklen Yasammez genügte, um jedem die Worte in der Kehle steckenbleiben zu lassen. »Warum ermordet Ihr meine Leute? Was haben sie Euch getan? Der letzte Krieg gegen Euer Volk ist zweihundert Jahre her — wir hatten schon ganz vergessen, dass es euch überhaupt gibt?«
Langsam wandte ihr Yasammez das Gesicht zu — eine regungslose Maske, blass und trotz der nicht-menschlichen Proportionen von einer schrecklichen Schönheit. »Zweihundert Jahre?«, sagte die Zwielichtlerfürstin mit ihrer harten und doch melodischen Stimme. »Nicht mehr als ein Augenblick. Wenn man wie ich die Jahrhunderte hat vorbeifliegen sehen, dann kann man vielleicht von Zeit sprechen, als hätte sie irgendeine Bedeutung. Euer Volk hat meines zum Untergang verurteilt, und jetzt erwidere ich diese Freundlichkeit. Ihr könnt das Ende mit ansehen oder Euch davor verkriechen, aber stehlt mir nicht die Zeit.«
»Dann tötet mich«, sagte Merolanna. Ihre Stimme hatte jetzt nichts Stockendes mehr.
»Nein, Herzogin!«, rief Utta, aber ihre Beine waren plötzlich so nachgiebig wie Frühjahrsbinsen, und sie konnte keinen Schritt tun.
»Still, Schwester Utta.« Die Herzogin wandte sich wieder dem hartkantigen Schatten zu, der Yasammez war. »Ich kann nicht einfach zuschauen, wie meine Leute sterben — meine Nichten und Neffen und Freunde —, aber ich kann mich auch nicht davor verkriechen. Wenn Ihr wisst, was Leiden ist, so wie Ihr behauptet — dann beendet meines.« Sie beugte
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