Die Daemmerung
Gesicht ihrer Ratgeberin, normalerweise vom weichen, warmen Grau der Brust einer Taube, war unübersehbar blass. »Ich fürchte ja, Herrin. Selbst wenn alle Eremiten ihre Gedanken und Gesänge vereinen, erreichen wir ihn nicht mehr.« Sie zögerte. »Wir dachten ... ich dachte ... wenn Ihr vielleicht ...«
»Natürlich komme ich.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl — ihre Gedanken waren schwerer als ihre dicke, schwarze Rüstung. Zum ersten Mal, soweit sie sich erinnern konnte, spürte sie das gewaltige Gewicht ihres Alters, die Last ihres langen Lebens. »Ich muss Abschied nehmen.«
Die Eremiten hatten eine hochgelegene Höhle über einem leeren, windgepeitschten Stück Strand unweit der Stadt bezogen. Stille und Einsamkeit waren die Wände ihres Tempels, und was beides anging, hatten sie sich einen guten Ort ausgesucht; als Yasammez Aesi'uah den Felspfad hinauf folgte, hörte sie nichts als Wind und das ferne Schreien von Seevögeln. Einen Augenblick war ihr fast friedlich zumute.
Aesi'uahs Schwestern und Brüder — wer was war, ließ sich nicht immer leicht sagen — saßen alle in der dunklen Höhle versammelt. Selbst Yasammez, die in einer mond- und sternenlosen Nacht von einer Hügelkuppe aus zu sehen vermochte, was eine Eule sähe, konnte nicht mehr ausmachen als das matte Glänzen von Augen in den Tiefen der dunklen Kapuzen. Einige von Aesi'uahs jüngsten Gefährten und Gefährtinnen, die schon in der Zeit des Zwielichts geboren waren, hatten nie ungedämpftes Sonnenlicht gesehen und hätten das Gleißen und die Hitze nicht überlebt.
Yasammez nahm einen Platz im Kreis ein. Aesi'uah setzte sich neben sie. Niemand sagte etwas. Das war nicht nötig.
In den Traumlanden, wohin nur Götter und Eingeweihte reisen konnten, fühlte sich Yasammez eine vertraute Gestalt annehmen. Sie benutzte sie nur, wenn sie außerhalb ihrer selbst unterwegs war, sowohl in der Welt des Wachseins als auch hier. In der Welt des Wachseins war diese Gestalt so körperlos wie Luft, hier jedoch war sie mehr — ein grimmiges Etwas mit Klauen und Zähnen, glimmenden Augen und seidigem Fell. Die Eremiten, durch ihre Anwesenheit ermutigt, strömten als immaterielle Schar hinter ihr her wie ein Schwarm Glühwürmchen. In ihnen brannte nicht wie in ihr die Feuerblume; ohne Schutz konnten sie nicht so weit reisen.
Aber was Aesi'uah gesagt hatte, stimmte — die Präsenz des Gottes war schwächer denn je, wie das Geräusch einer Maus in jungem Gras. Und schlimmer noch, sie fühlte andere Präsenzen, nicht die der anderen verschollenen Götter, sondern jene minderen Wesen, die mit ihren Herren vertrieben worden waren, als ihr Vater sie alle verbannt hatte. Diese hungrigen Wesen witterten im Wind der Traumlande Veränderung und spürten, dass womöglich die Zeit nahte, da sie in eine Welt zurückkehren konnten, die verlernt hatte, ihnen zu widerstehen.
Und tatsächlich saß ein solches Wesens jetzt mitten auf dem Weg und erwartete sie. Die Eremiten flogen erschrocken empor und kreisten, doch Yasammez schritt weiter, bis sie vor dem Wesen stand. Es war alt, das erkannte sie daran, wie seine Gestalt sich ständig verschob und veränderte: Sie war Yasammez' Wahrnehmung zu fremd, als dass deren Augen und Denken sie richtig hätten erfassen und ordnen können.
»Du bist weit weg von
zu
Hause, Kind«,
sagte das Wesen zu einem der ältesten Geschöpfe, die auf Erden wandelten.
»Was suchst du?«
»Du weißt, was ich suche, alte Vettel«, antwortete sie. »Und du weißt auch, dass meine Zeit knapp ist. Lass mich vorbei.«
»Du bist unhöflich
zu
einer Nachbarin!«,
sagte die Kreatur glucksend.
»Du bist keine Nachbarin von mir.«
»Oh,
aber ich könnte es bald sein. Du weißt ja, er liegt im Sterben. Wenn er nicht mehr ist, wer sollte mich und meinesgleichen hier halten?«
»Still. Schluss mit deinen giftigen Worten. Lass mich durch, oder ich vernichte dich.«
Das Etwas veränderte seine Gestalt, schlug Blasen, kam wieder zur Ruhe.
»Dazu hast du nicht die Macht. Das kann nur jemand von den alten Mächten.«
»Vielleicht. Aber selbst wenn ich dich nicht vernichten kann, kann ich dir doch vielleicht solche Schmerzen zufügen, dass du nicht in der Verfassung sein wirst, hinüberzugelangen, wenn die Zeit da ist.«
Das Etwas starrte sie an oder schien es jedenfalls zu tun, denn soweit Yasammez sehen konnte, hatte es keine Augen. Endlich glitt es zur Seite. »Heute ist mir nicht danach, den Zweikampf mit dir zu suchen, Kind. Doch der Tag kommt.
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