Die Daemmerung
wieder einmal lange wachgelegen und gegrübelt hatte, ehe sie schließlich eingeschlafen war. Leise Schritte weckten sie irgendwann in den kalten Stunden nach Mitternacht; an der Art der Schritte hörte sie, dass es Vo war. Sie lag da und horchte, wie er an Deck auf und ab ging, immer wieder dieselbe kurze Strecke, deren Mitte etwa auf ihrer Höhe war. Sie wunderte sich über das Gemurmel, das ab und zu über dem steten Schwappen und Klatschen der Wellen zu hören war, bis ihr klar wurde, dass es Vo war, der auf Xixisch vor sich hin redete.
Dass ein Mann von so eisernem Willen Selbstgespräche führte, war als solches schon beängstigend genug: Es war ein Zeichen von Wahnsinn und Kontrollverlust, und obwohl sie Vo fürchtete, wusste Qinnitan doch, dass sie, wenn er bei Verstand blieb, zumindest so lange leben würde, bis er sie dem Autarchen übergab. Aber Sulepis hatte ihm etwas eingepflanzt, und wenn ihm dieses Etwas schreckliche Schmerzen bereitete oder wenn die Gifttropfen, die er jeden Tag nahm, irgendwie seinen Geist vernebelten, konnte alles passieren. Also lag Qinnitan zitternd im Dunkeln und lauschte seinem Hin und Her an Deck.
Er sprach, als seien seine Worte an irgendjemanden gerichtet. Das meiste, was er sagte, war eine Aneinanderreihung von Beschwerden, die Qinnitan nicht viel sagten — irgendeine Frau, die ihn spöttisch angesehen, ein Mann, der ihn von oben herab behandelt, ein anderer, der geglaubt hatte, schlauer zu sein als er. Sie alle waren offenbar eines Besseren belehrt worden, zumindest in Vos fiebrigem Hirn, und das setzte er einem imaginären Zuhörer auseinander.
»Hautlos jetzt, alle miteinander.« Sein triumphierendes Zischen war so unheimlich, dass sie nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken konnte. »Hautlos und augenlos weinen sie jetzt Blut in den Staub des Jenseits. Weil man sich über Daikonas Vo nicht lustig macht ...«
Kurz darauf blieb er nicht weit von ihr stehen. Sie riskierte es, die Augen ein ganz klein wenig zu öffnen, konnte aber nicht richtig erkennen, was er machte: Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, als ob er einen Becher Wein leerte, richtete sich aber sofort wieder auf.
Das
Gift, begriff sie. Was auch immer in dem schwarzen Fläschchen war, er nahm es auch nachts, nicht nur morgens, wie sie geglaubt hatte. Machte er das schon die ganze Zeit? Oder war es neu?
Als er das Zeug genommen hatte, schwankte Daikonas Vo ein wenig und wäre fast hingefallen, was das Sonderbarste von allem war: Bisher hatte er sich immer mit raubtierhafter Anmut bewegt. Er setzte sich auf die Decksplanken, an den Mast gelehnt, ließ das Kinn auf die Brust sinken und verharrte dann so reglos, als ob er in tiefen Schlaf gefallen wäre.
Seinen Vornamen zu kennen, nützte Qinnitan gar nichts. Ihn wütende Selbstgespräche führen zu hören, hatte ihr nur noch mehr Angst gemacht — er schien wirklich verrückt zu werden. Doch was sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte, waren die Erschlaffung und die Schwere, die sofort nach der Einnahme des Gifts über ihn gekommen waren.
Das war allerdings etwas, worüber nachzudenken sich lohnte.
34
Der Sohn des Ersten Steins
Eenur, der Elbenkönig, gilt als blind. Einigen Quellen zufolge verlor er das Augenlicht, als er aufseiten des Zmeos Weißfeuer in der Theomachie kämpfte und von einem grellen Blitz aus Perins Hammer getroffen wurde. Nach anderen Darstellungen gab er es im Tausch dafür hin, das
Buch der Trauer
lesen zu dürfen.
Eine Abhandlung über die Elbenvölker Eions und Xands
Eine Gestalt in einem hellen Gewand trat aus den verwirrenden Schatten. Die drei Kreaturen zogen sich zurück und sprangen um sie herum wie Jagdhunde um einen Jäger, doch diese auf die Handknöchel gestützten, affenartigen Wesen hatten nichts von Hunden.
Barrick setzte sich auf, um sich verteidigen zu können, aber der Fremdling stand einfach nur da und blickte mit einer Miene, die nachdenklich sein mochte, auf ihn herab. Auf den ersten Blick hatte Barrick die Gestalt für einen Menschenmann gehalten, doch jetzt war er sich nicht mehr so sicher: Die Ohren waren seltsam geformt und saßen zu tief am haarlosen Schädel, und die Gesichtsform war ebenfalls ungewöhnlich, mit extrem hohen Wangenknochen, langem Kinn und einer Nase, die kaum mehr war als ein flacher Hubbel über zwei Schlitzen.
»Was ...?« Barrick zögerte. »Wer seid Ihr? Wo bin ich?«
»Ich bin Harsar, ein Diener. Und Ihr seid natürlich im Haus des Volkes.« Der Fremdling sprach — seine
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