Die Daemmerung
verzückte Miene eines wahren Gläubigen auf — einen Moment lang nahm ihm selbst Briony, die durch eine Ritze des Wagens spähte, seine Inbrunst ab. »Und er schämte sich dafür, dass seine Tochter umherging und das heilige Wort des Trigon predigte und ihn anprangerte, weil er mit einem schamlosen Weibsbild zusammenlebte, ohne die Ehe im Tempel geschlossen zu haben, wie es sich gehört«, fuhr Kennit fort, wobei er den Torwächter am Arm fasste und sich so dicht zu ihm beugte, dass der Mann zurückzuckte. »Also ergriffen er und sein schamloses Weib die Jungfer Finnya im Schlaf und warfen sie zwischen die Mühlsteine, aber die Steine drehten sich nicht, weil sie ihr nichts tun wollten. Daraufhin schleiften sie sie des Nachts zum Brunnen und warfen sie hinein, um sie zu ersäufen, doch am nächsten Morgen ...«
»Was brabbelt Ihr da?« Der Wächter zog seinen Arm weg.
»Ich erzähle Euch vom Orakel Finnya«, sagte Kennit geduldig. »Und wie am Morgen die Frauen des Dorfs zum Brunnen kamen, um Wasser zu holen, da stieg Finnya aus dem Wasser empor, glänzend wie eine Gottheit selbst, und verkündete ihnen die Wahrheit über die Drei Brüder, über den Sechsfachen Weg und die Lehre vom Anstand gegenüber Nutztieren ...«
»Genug, Mann!«, stöhnte der Wächter, doch als es gerade schien, als wollte er sie passieren lassen, fühlte Briony den Wagen wackeln und hörte die Wagentür knarren. Sie warf sich wieder auf den Boden und zog sich die Decke bis zum Hals.
»Und wer ist
das?«
Es war einer der Torhauswächter. Er stieg in den Wagen und baute sich neben ihr auf. Briony stöhnte, ließ aber die Augen zu. »Was macht das Mädchen hier?«, wollte er wissen. »Lass dich ansehen.«
Briony fühlte, wie seine rauhe Hand die Decke packte und wegzog. Sie legte schützend die Hände auf ihren Bauch und das Bündel Lumpen, das unter ihrem schäbigen Kleid steckte.
»Bitte, werter Herr, bitte?«, sagte Finn. »Das ist meine Frau. Wir bringen sie zum Brunnen des Orakels, um dafür zu beten, dass bei der Geburt alles gutgeht. Keins unserer anderen Kinder hat überlebt ...«
»Ja«, sagte Kennit hinter ihm. »Mein Schwager hat Schreckliches durchlitten. Mit seiner Frau stimmt etwas nicht. Das arme Weib, mit ihr ist etwas nicht in Ordnung — wir glauben, dass sie eine Krankheit hat. Bei der letzten Niederkunft kam ein übler, schwarzer Ausfluss aus ihr heraus, der stank wie vergammelter Fisch ...«
Trotz ihrer Angst hätte Briony beinah aufgelacht, als der Wächter sich schleunigst aus dem Wagen verzog.
Als das Stadttor hinter ihnen entschwand, wagte sich Briony heraus und setzte sich auf das Treppchen, während der Wagen die königliche Straße entlangrumpelte, neben dem breiten Esteros, der in der frühmorgendlichen Sonne schimmerte.
»Anstand gegenüber Nutztieren?«, fragte sie. »Und
vergammelter
Fisch?«
Kennit sah sie von oben herab an. »Ich kannte eine Frau in Grotestell, die immer nach vergammeltem Fisch roch. Glaubt mir, auch sie hatte ihre Verehrer.«
»Ganz zu schweigen von dem Rudel Katzen, das ihr auf Schritt und Tritt folgte«, sagte Finn lachend. »Gut gemacht, Prinzessin. Ich sehe, Ihr habt nicht vergessen, was wir Euch gelehrt haben.« Er hielt sich den ausladenden Bauch. ›O mein armes Baby! O ich Ärmste!‹ Überaus überzeugend.«
Briony musste lachen — zum ersten Mal seit einer ganzen Weile. »Gauner, alle miteinander.«
»Was uns Schauspieler immer noch ehrlicher macht als die meisten Edelleute«, sagte Kennit.
Brionys Lachen verschwand. »Bis auf Feival.«
Auch Kennits Gesicht wurde düster. »Ja, bis auf ihn.«
Sie zogen bis nach Doros Eco, einer befestigten Stadt, die sich in die Hügel am Fluss schmiegte. Es war ein kalter, windiger Abend. Während Briony, in ihren Mantel gehüllt, Estir Makswell beim Kochen zusah, wurde ihr plötzlich bewusst: Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie sich ... frei. Nein, nicht direkt frei, aber die Schwere, die im Weithallpalast jeden Tag auf ihr gelastet hatte, das Gewicht der Verdächtigungen und Erwartungen, war weg. Sie war immer noch beunruhigt, ja verängstigt wegen all der Dinge, die ihr und denen, die sie liebte, widerfahren waren, aber hier unter freiem Himmel, umgeben von Menschen, die nichts von ihr wollten, was sie nicht von Herzen gern gab, schöpfte sie doch ein wenig Hoffnung.
»Kann ich etwas helfen, Estir?«, fragte sie.
Die Frau sah sie argwöhnisch an. »Warum solltet Ihr, Prinzessin?«
»Weil ich es möchte. Weil ich nicht
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