Die Daemmerung
Hartes mehr — sie wirkte völlig schutzlos, ein weichleibiges Lebewesen, dem man seine Schale weggerissen hatte. »Er hat einen Spiegel. Er kann ... da sind ... Wesen darin. Wesen, die ... lachen ... und ... und sprechen. Sie kennen schreckliche Geheimnisse.« Ein Schauder lief über ihren schmalen Körper, ließ ihre vor der Brust verklammerten Hände zittern. »Er hat mich gezwungen hineinzuschauen ...«
Kettelsmit konnte nichts sagen, konnte sich nicht einmal rühren, obwohl er nichts sehnlicher wollte, als sie in die Arme zu nehmen und vor den bösen Erinnerungen zu schützen, die sie so plagten, doch die schiere Hoffnungslosigkeit in ihrer Stimme bewirkte, dass seine Gliedmaßen sich schwer und blutleer anfühlten.
»Er zwang mich hineinzuschauen«, sagte sie wieder, jetzt flüsternd. »Er brachte mich in einen Kellerraum hinab und hielt meinen Kopf fest. Es ... es hat zu mir gesprochen. Dieses Etwas hat zu mir gesprochen.
Es wusste, wer ich bin!
Es wusste Dinge über mich, die niemand wissen kann, auch nicht Hendon Tolly — nicht einmal meine Eltern? Ich wollte weglaufen, konnte aber nicht. Was immer es war, das in diesem Spiegel wohnte — es hielt mich gefangen und spielte mit mir wie ... wie eine Katze, die eine Maus mit ihren Krallen zu Boden drückt, dann die Pfote hebt und die Maus laufen lässt, nur um sie wieder zu fangen. Ich ... ich ...« Sie weinte jetzt haltlos, hob aber nicht einmal die Hand, um sich die Tränen wegzuwischen. »Ich will nicht in einer solchen Welt leben, Matty Kettelsmit. Einer Welt, voll mit solchem ... Dreck, solch schrecklichen Dingen hinter jedem Spiegelglas ... jedem Spiegelbild.«
Endlich fand Kettelsmit seine Stimme wieder. »Es war ein Trick ... etwas, womit er Euch Angst machen wollte ...«
Sie schüttelte den Kopf, und noch immer rannen ihr Tränen über die Wangen. »Nein. Er hat selbst Angst davor. Ich glaube, dass er es mir deshalb gezeigt hat. Es ist wie eine wilde Bestie in einem Käfig. Er wollte es als Schoßtier halten, aber es stellt Forderungen. Er wollte es mit mir füttern. Das ist noch ein Grund, warum er mich nicht einfach gehen lassen wird, Matty. Ich sollte die Bestie ... beschäftigt halten.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Kettelsmit Elan M'Cory so weit beruhigen konnte, dass sie etwas kalte Brühe zu sich nahm und dann einschlief. Es tat wohl, sie ihre schlimmsten Sorgen beiseiteschieben und Ruhe finden zu sehen, aber wie lange würde er hier sitzen bleiben und auf sie aufpassen können? Wie viel Zeit würde er auf diese heimlichen Pflichten verwenden können, ohne dass irgendjemand an Hendon Tollys Hof seine Abwesenheit bemerkte? Die Hauptburg war voll von Spionen und Speichelleckern, die allesamt eifersüchtig um die Gunst ihres Herrn und Gebieters buhlten — und von denen mancher sogar eifersüchtig auf den armen Matty Kettelsmit war, der doch in seinem Leben kein Quentchen Glück gehabt hatte, das sich nicht unverzüglich in Pferdemist verwandelt hätte.
Wenn Brigid nicht will, muss ich jemand anderen finden, der mir mit Elan hilft. Aber wem kann ich trauen? Und wichtiger noch, wen kann ich mir leisten? Er blickte auf den Silberstör, der ihm, so sich das Bierkrugwunder von Onir Diotrodos nicht wiederholte, für zwei Tagzehnte würde reichen müssen. Unmöglich. Jeder, der bereit wäre, für einen solchen Lohn zu arbeiten, würde Elans Stand erkennen, Kettelsmits gefährliche Lage wittern und ihn als erstklassiges Erpressungsopfer ausmachen. Er brauchte jemanden, der kein Geld und wenig Skrupel hatte, ihm aber dennoch nicht in den Rücken fallen oder zumindest ein Weilchen damit warten würde.
Auf den ersten Blick schien es unlösbar. Aber zu seinem Leidwesen wusste Kettelsmit, dass es doch eine Lösung gab.
Es gibt nur einen solchen Menschen in ganz Südmark,
dachte er schweren Herzens.
Meine Mutter.
Doch ehe er die dafür anstellen konnte, musste er sie erst einmal finden.
Trotz des Luxus und des Gepränges am syanesischen Hof krochen für Briony die Tage im Schneckentempo dahin. Über ihre Behandlung konnte sie sich nicht beklagen — sie war standesgemäß untergebracht, in einer Reihe von Gemächern im langgestreckten Ostflügel des Palasts, mit Blick auf den Fluss. Man hatte ihr Dienerinnen und Zofen zur Verfügung gestellt und Truhen mit Kleidern und Schmuck, alles, wie man ihr erklärte, auf Anweisung der Favoritin des Königs, Lady Ananka. Briony war mit Ammenmärchen von eifersüchtigen Hexen und bösen Feen aufgewachsen:
Weitere Kostenlose Bücher