Die Daemmerung
Freundin Ivgenia. »Warum habt Ihr mir nichts gesagt? Er kommt wirklich hierher — Prinz Eneas?«
Briony musste lächeln. Eneas war nur ein Königssohn, nicht anders als ihre eigenen Brüder — wenn auch, zugegeben, Kronprinz eines viel größeren und bedeutenderen Hofes und Reiches. Alle Frauen in Weithall schienen entschlossen, ihn wie einen Gott zu behandeln. »Ja, er kommt.« Sie wandte sich an ihre übrigen Gesellschafterinnen. »Und gafft ihn nicht an, wenn er kommt. Macht weiter mit eurer Nadelarbeit.« Kaum, dass es draußen war, bereute sie es. Es war das erste Mal seit dem Tod der kleinen Talia, dass die Mädchen überhaupt für irgendetwas Interesse zeigten. »Oder tut wenigstens so, als ob ihr's tätet, bitte. Sonst verschreckt ihr ihn noch.« Sie hatte so eine Ahnung, dass Eneas es genauso wenig leiden konnte, angehimmelt zu werden, wie ihr Bruder Barrick, wenn auch vermutlich aus ganz anderen Gründen.
Als der Prinz erschien, kam er mit bemerkenswert wenig Gepränge, ohne Leibwache oder Gefolge und auf eine Art gekleidet, die nach syanesischen Maßstäben höchst informell war. Er trug eine schlichte, aber saubere Jacke und ein ebensolches Wams, die weiten, pludrigen Kniehosen, die derzeit hier Mode waren, einen Reisemantel, der tatsächlich Spuren des Reisens aufwies, und eine große, flache Mütze, die ebenfalls aussah, als wäre sie zu lange den Elementen ausgesetzt gewesen. Briony sah Feival an, dass er vom guten Aussehen des Prinzen beeindruckt war, dessen gewöhnliche Kleidung aber missbilligte.
»Er hat doch sicher Kleiderkammern, so groß wie Bokeburg«, flüsterte ihr der junge Schauspieler ins Ohr, »und dennoch betritt er sie offensichtlich nie.«
Eneas muss der einzige Mensch hier am Hof sein, der nicht in sein Spiegelbild verliebt ist,
dachte Briony. In ihren Augen gab ihm seine Aufmachung etwas wohltuend Ernsthaftes: Er war ein Mann, der sich saubere, hübsche Sachen anzog, um ein Edelfräulein zu besuchen, der aber auch noch anderes zu tun hatte und daher seinen Alltagsmantel und seine Alltagsmütze trug.
»Prinzessin Briony«, sagte Eneas mit einer Verbeugung. »Wie jeder hier war ich bestürzt, als ich erfuhr, was Euch widerfahren ist, mitten im Herzen des Reichs meines Vaters.«
»Durch schieres Glück ist mir gar nichts widerfahren, Prinz Eneas«, sagte sie freundlich. »Aber der armen Talia, meinem Mädchen, war solches Glück nicht beschieden.«
Anrührenderweise errötete er. »Gewiss«, sagte er. »Verzeiht mir. Ich kann mir nur ausmalen, wie groß der Schmerz ihrer Familie sein muss, wenn sie die Nachricht erhält. Es war ein furchtbarer Tag für uns alle.«
Briony nickte. Er nahm die Mütze ab und enthüllte Haar, so dunkel wie getrocknete Gewürznelken; es sah aus, als wäre es zwar mit einer Bürste in Berührung gekommen, aber nur oberflächlich. Sie deutete auf die kissengepolsterte Bank. »Bitte, setzt Euch doch, Hoheit. Ihr kennt ja sicher Fräulein Ivgenia e'Doursos — Graf Teryons Tochter.«
Der Prinz nickte dem Mädchen ernst zu. »Gewiss«, sagte er, obwohl Briony bezweifelte, dass er sich an das Mädchen erinnerte, und wenn es noch so hübsch war. Prinz Eneas war bekannt dafür, so wenig Zeit am Hof zu verbringen wie irgend möglich, was seine Anwesenheit jetzt und hier doppelt interessant und ziemlich schmeichelhaft machte.
»Wie geht es Euch, Prinzessin — in Wahrheit?«, fragte er, sobald sie saßen. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich bestürzt hat, von diesem schrecklichen Mord zu hören. Dass jemand glaubt, sich so etwas herausnehmen zu können, hier in unserem Haus!«
Briony war längst zu dem Schluss gekommen, dass der Weithallpalast kaum ungefährlicher war als ein Schlangennest, aber es fiel ihr schwer, an Eneas' Aufrichtigkeit zu zweifeln. Was hatte Finn über ihn gesagt, damals, als sie nach Syan gekommen waren — vor so langer Zeit?
»Er wartet geduldig, bis er an der Reihe ist. Er soll ein braver Mann sein, fromm und mutig. Natürlich heißt es das über jeden Prinzen, selbst wenn er sich als blutrünstiges Monster entpuppt ...«
Briony glaubte, inzwischen genügend Monstern begegnet zu sein, um sich ein Urteil erlauben zu können, und sie bezweifelte, dass dieser junge Mann je eins werden würde. Er war wirklich ziemlich charmant, und um seinen Besuch hier in ihren Gemächern würde sie so ziemlich jede Frau in Weithall, ob jung oder alt, beneiden.
»Es geht mir so gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann«,
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