Die Daemmerung
»Es spielt keine Rolle. Doch auch wenn Ihr es mir vielleicht nicht glaubt — ich fürchte um unser Volk, o meine Mutter. Ich fürchte Eure Entscheidungen. Deshalb, so nehme ich an, frage ich Euch. Wie ein ungezogenes Kind, das auf die Rückkehr der Mutter wartet, fürchte ich die Strafe weit weniger als das Warten.«
»Das liegt daran, Kayyin, dass Ihr ein Kind
seid,
verglichen mit mir. Wenn ich zuzuschlagen beschließe, wird es schnell gehen und grausam und endgültig sein. Ich werde eine Macht gegen diesen Ort einsetzen, die alles Lebende tötet, selbst die Vögel in den Bäumen und die Maulwürfe in der Erde.«
Erstmals wirkte er überrascht, lag plötzlich so etwas wie Angst auf seinem Gesicht. »Was? Was würdet Ihr mit ihnen machen?«
»Das geht dich nichts an, kleiner Wendehals. Doch weil die Zerstörung so vollständig sein wird, beginne ich damit nicht, ehe ich mir nicht sicher bin.«
»Dann gebt Ihr also zu, dass Ihr Zweifel habt?«
»Zweifel? Ha!« Sie ergriff Weißfeuer, das auf ihrem Schoß gelegen hatte, erhob sich, streckte die langen Beine und legte dann das Schwert auf den Ratstisch. Die große Halle, die einst der Ratssaal der Stadt gewesen war, war leer, beherbergte nicht einmal mehr Geister. Ihre Wachen warteten draußen. Wie Kayyin waren auch sie sicherlich missgelaunt und ungeduldig wegen der langen Verzögerung, nachdem der Krieg schon so gut wie gewonnen schien. Doch im Gegensatz zu ihm waren sie Soldaten und würden die Disziplin haben, es für sich zu behalten. »Soll ich Euch eine Geschichte erzählen?«
»Eine wahre Geschichte?«
»Ihr ärgert mich weniger, als Ihr glaubt, aber immer noch mehr, als die Höflichkeit zulässt. Euer Vorfahr würde sich schämen — er war ein Geschöpf von höchstem Anstand.«
»Ist das die Geschichte, die Ihr mir erzählen wollt? Von meinem Vorfahren?«
»Ich will Euch von der Schlacht der Zitternden Ebene erzählen. Und, ja, Euer Urururgroßvater Ayyam war dabei. Dort habe ich ihn kennengelernt. Es war eine der letzten Schlachten zwischen den Sippen von Brise und Feuchte und ihren sterblichen Verbündeten. Wir kämpften für Weißfeuer gegen seine drei verräterischen Halbbrüder, die, die diese sterblichen Dummköpfe verehren.
Ich war einer der drei Heerführer König Numannyns — Numannyn der Vorsichtige, wie er genannt wurde. Wir hatten schon lange für den großen Gott Weißfeuer gekämpft, uns viele Tage gegen Halbgötter und Sterblichenheere geschlagen, und unsere Streitkräfte waren müde. Es war fast schon Nacht, und die Krieger wollten nur noch ein Lager errichten, ehe die Dunkelheit hereinbrach. Weißfeuers Bruder Silberglanz war gefallen, und der Mond war rot und beinah erloschen — die Götter konnten ohne Licht kämpfen, aber für uns war es schwerer. Aber Numannyn hatte eine Seherin bei sich, und sie verkündete dem König, dass im Schutze der Dunkelheit ein Mann mit einer Garde von mehreren hundert Sterblichensoldaten vom Schlachtfeld zu fliehen suchte.
›Das muss jemand Wichtiges sein‹, sagte Numannyn. ›Einer der Sterblichenkönige, der der Schlacht zu entrinnen sucht, oder vielleicht ein Bote der Sterblichen an die Götter des Xandos. Wir müssen ihn fangen.‹
›Eure Soldaten sind müde‹, erklärte ihm einer der anderen Heerführer. Ich wagte es nicht, dem König zu widersprechen, aber auch ich war besorgt. Meinen Kriegern war bereits viel abverlangt worden, und der nächste Tag drohte noch blutiger zu werden als alle vorherigen. Selbst die grimmigsten Kämpfer unseres Volkes müssen manchmal ruhen.
›Etwas daran erscheint mir unheilvoll‹, sagte der dritte Heerführer.
›Können wir nicht eine Schar Elementargeister ausschicken, sich diesen Flüchtigen näher anzusehen? Ich wittere eine Falle.‹
›Wenn keiner meiner Heerführer dies für mich erledigen will‹, sagte Numannyn zornig, ›werde ich mir einen Trupp nehmen und es selbst tun.‹
Wir waren alle beschämt. Da ich die Jüngste war und die Einzige, die keine Einwände erhoben hatte, fühlte ich mich verpflichtet, den Auftrag auszuführen. Ich nahm meine Gefährten, die Tränenmacher, und wir bestiegen unsere Reittiere und brachen auf.
Wir erreichten den Feind, als er gerade den Fluss Silberpfad durchqueren wollte, am Fuß der Berge, die sich um das weite, eisige Feld zogen. Wie die Seherin gesagt hatte, waren da vielleicht hundert Sterblichensoldaten, die ritten, so schnell ihre Pferde sie trugen. Sie waren stark und wohlbewaffnet, schienen aber
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