Die Dämonen ruhen nicht
»Und wie Ihre, Madame Scarpetta. Sie haben die elegante Hand einer Künstlerin. Und nun wissen Sie, warum ich die Hände nie anrühre. >Die Psychonomie der Hand< oder >Die Hand als Gradmesser geistiger Entwicklung.< Monsieur Richard Beamish. Ein ausgezeichnetes Buch mit vielen Zeichnungen lebendiger Hände, falls Sie es auftreiben können. Doch leider wurde es 1865 verfasst und steht nicht in Ihrer Stadtbücherei. Zwei Zeichnungen entsprechen Ihnen genau. Die quadratische Hand, elegant, aber stark. Und die Künstlerhand, gelenkig, flexibel und ebenfalls elegant. Allerdings weist sie eher auf einen impulsiven Charakter hin.«
Scarpetta antwortet nicht.
»Impulsiv. Hier sind Sie. Unangemeldet. Einfach so. Ein ziemlich nervöser Typ. Aber sanguinisch.«
Er lässt sich das Wort sanguinisch auf der Zunge zergehen; in der antiken Temperamentenlehre bedeutete es, dass das Blut als das dominierende Element gilt. Sanguiniker sind angeblich lebensbejahende und fröhliche Menschen. Scarpetta ist im Moment alles andere als das.
»Sie sagten, Sie rühren die Hände nicht an. Eine Erklärung dafür, warum Sie den Frauen, die Sie abgeschlachtet haben, nie in die Hand beißen«, erwidert sie ausdruckslos.
»Die Hände sind Verstand und Seele. Niemals würde ich die Manifestation dessen, was ich bei meinen Auserwählten freisetzen will, beschädigen. An den Händen lecke ich nur.«
Offenbar hat er es darauf abgesehen, Scarpetta abzustoßen und zu demütigen. Aber sie ist noch nicht fertig mit ihm.
»In die Fußsohlen haben Sie sie auch nicht gebissen«, erinnert sie ihn.
Achselzuckend spielt er mit seiner Pepsi-Dose herum, die schon beim letzten Hinstellen leer geklungen hat. »Füße sind für mich nicht von Interesse.«
»Wo sind Jay Talley und Bev Kiffin?«, fragt sie noch einmal.
»Ich werde müde.«
»Warum wollen Sie Ihren Bruder schützen, obwohl er Sie Ihr ganzes Leben lang so schlecht behandelt hat?«
»Ich bin mein Bruder«, lautet seine für sie unverständliche Antwort. »Also erübrigt sich jetzt, nachdem Sie mich gefunden haben, die Suche nach ihm. Und nun bin ich sehr müde.«
Jean-Baptiste reibt sich den Bauch und zuckt zusammen, während seine Augen weiterschweifen. »Ich glaube, mir wird übel.«
»Wenn Sie mir nichts mehr zu sagen haben, gehe ich.«
»Ich bin blind.«
»Sie sind ein Simulant«, erwidert Scarpetta.
»Sie haben mir die körperliche Sehkraft genommen, aber erst, nachdem ich Sie gesehen hatte.« Er fährt sich mit der Zunge über die spitzen Zähne. »Erinnern Sie sich an Ihr reizendes
Zuhause mit der Dusche in der Garage? Als Sie von einem Tatort am Hafen von Richmond zurückkamen, sind Sie in die Garage gegangen, um sich umzuziehen und zu desinfizieren, und Sie haben dort geduscht.«
Vor Wut und Demütigung krampft sich alles in ihr zusammen. Sie hatte eine zerfallende, verwesende Leiche in einem Frachtcontainer untersucht. Und ja, sie ist anschließend so vorgegangen wie immer: Sie hat den Schutzoverall und die Stiefel ausgezogen, alles in einem dicken Plastiksack verpackt und diesen im Kofferraum ihres Wagens verstaut. Dann ist sie nach Hause gefahren. In der Garage, die ganz und gar keine gewöhnliche Garage war, hat sie die Kleidung vom Tatort in ein Industriewaschbecken aus Edelstahl geworfen. Danach hat sie sich ausgezogen und geduscht, um den Tod auf keinen Fall in ihr Haus einzuschleppen.
»Das kleine Fenster in Ihrer Garagentür. Ganz ähnlich wie das kleine Fenster meiner Zelle«, spricht er weiter. »Ich habe Sie gesehen.«
Wieder der unstete Blick und das Fischmaulgrinsen.
Seine Zunge blutet.
Scarpettas Hände sind kalt. Ihre Füße werden taub. An den Armen und im Nacken stellen sich ihr die Haare auf.
»Nackt.« Er genießt das Wort und saugt an seiner Zunge. »Ich habe Sie beim Ausziehen beobachtet. Ich habe Sie nackt gesehen. So eine Freude, wie ein guter Wein. Damals waren Sie ein Burgunder, rund, kräftig und komplex; man muss ihn trinken, nicht nur daran nippen. Heute sind Sie ein Bordeaux, denn Sie sind schwerer geworden, wenn Sie sprechen. Nicht körperlich, das glaube ich zumindest nicht, doch um das festzustellen, müsste ich Sie nackt sehen.« Er presst die Hand gegen die Scheibe, eine Hand, die andere Menschen zu Knochensplittern und Brei geschlagen hat. »Natürlich ein Rotwein. Sie sind immer...«
»Es reicht!«, ruft Scarpetta, als ihre Wut wie ein wild gewordener Eber aus der Deckung stürmt. »Halten Sie den Mund, Sie wertloses Stück Dreck!«
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