Die Dämonen ruhen nicht
Klinke in die Hand geben, muss die Frau an der Schalttafel besonders auf der Hut sein, denn Biest könnte schließlich durchdrehen. Warum auch nicht? Er hat ja nichts mehr zu verlieren.
Die Tür der Zelle besteht aus Gitterstäben, sodass die Wachmänner in der Lage sind, jede von Biests Bewegungen zu beobachten. So können sie sichergehen, dass der Häftling den traurigen, gütigen Menschen, die ihn besuchen, wirklich nichts antut. Biest wirft Jean-Baptiste durch die Gitterstäbe einen Blick zu, und zwar im selben Moment, als die Frau in der Wachstation Jean-Baptistes Zellentür entriegelt und Officer Abrams und Officer Wilson ihm die Handschellen abnehmen.
Da fängt Biest an zu brüllen, umklammert kreischend und fluchend die Gitterstäbe der Zelle und springt auf und ab. Sofort drehen sich alle zu ihm um. Jean-Baptiste packt die Wachmänner Abrams und Wilson an ihren dicken Ledergürteln, und zwar mit einem solchen Ruck, dass sie den Boden unter den Füßen verlieren. Ihre Schreckensschreie mischen sich mit dem ohrenbetäubenden Radau, der im Zellenblock ausbricht, während Jean-Baptiste seine beiden Bewacher links neben der massiven Tür gegen die Zellenwand knallt. Die Tür lehnt er nur an, damit sie ihm nicht ins Schloss fällt. Dann sticht er den Wachmännern mit seinem langen, schmutzigen Daumennagel die Augen aus und zerquetscht ihnen mit seinen magnetisierten Händen die Luftröhre. Ihre Gesichter laufen dunkelblau an, und ihr Zappeln lässt rasch nach. Jean-Baptiste hat sie praktisch ohne Blutvergießen getötet. Nur ein kleines Rinnsal läuft aus ihren Augen, und Officer Wilson hat eine Platzwunde am Kopf.
Jean-Baptiste zieht Officer Abrams die Uniform aus und schlüpft hinein. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden. Danach drückt er die schwarze Kappe tief in sein Gesicht und setzt die Brille des Toten auf. Nachdem er die Zelle verlassen hat, schließt er die Tür mit einem weiteren lauten metallischen Knall, während Biest weiter hinten am Gang mit dem Wachpersonal kämpft. Als Biest eine Ladung Pfefferspray abkriegt, schreit er auf und widersetzt sich noch heftiger; diesmal braucht er nicht einmal zu schauspielern.
Jean-Baptiste durchschreitet Tür um Tür, indem er Officer Abrams’ Dienstausweis hochhält. So sicher ist er sich des Erfolgs, dass er ganz ruhig ist und sogar ein wenig geistesabwesend wirkt, als die Wachleute die Türen für ihn entriegeln. Jean-Baptistes Füße berühren kaum den Boden, er glaubt zu schweben, als er als freier Mann aus dem Gefängnis spaziert und Officer Abrams’ Autoschlüssel aus der Tasche kramt.
101
Im George Bush Intercontinental Airport hat sich Scarpetta an die Wand gelehnt, damit sie niemandem im Weg steht.
Sie trinkt schwarzen Kaffee, obwohl sie weiß, dass sie das besser nicht tun sollte. Der Appetit ist ihr vergangen; als sie sich vor einer knappen Stunde einen Hamburger gekauft hat, bekam sie keinen Bissen hinunter. Vom Koffein zittern ihre Hände. Ein Gläschen Scotch würde sie sicher beruhigen, aber sie wagt es nicht, und die Linderung wäre außerdem nur vorübergehend. Sie muss jetzt einen klaren Kopf behalten und die Stresssituation ohne schädliche Hilfsmittel meistern.
Bitte, geh ans Telefon, fleht sie lautlos.
Es läutet drei Mal. »Ja?«
Marino sitzt in seinem dröhnenden Pick-up.
»Gott sei Dank«, ruft sie aus und dreht den anderen Fluggästen, die zielstrebig an ihr Vorbeigehen oder zu ihren Flugsteigen eilen, den Rücken zu. »Wo, in Gottes Namen, hast du gesteckt? Seit Tagen versuche ich, dich zu erreichen. Das mit Rocco tut mir Leid ...«
Um Marino willen meint sie das ernst.
»Ich will nicht darüber reden«, erwidert er mit gedämpfter Stimme und niedergeschlagener als bei ihm üblich. »Ich war in der Hölle, wenn du es genau wissen willst. Wahrscheinlich habe ich meinen eigenen Rekord im Bourbontrinken und Nicht-ans-Scheißtelefon-Gehen gebrochen.«
»Oh nein. Hast du dich wieder mit Trixie gestritten? Ich habe dir doch gesagt, was ich ...«
»Ich will nicht, darüber reden«, wiederholt er. »Nimm’s mir nicht übel, Doc.«
»Ich bin in Houston«, teilt sie ihm mit.
»Oh Scheiße.«
»Ich war bei ihm. Und habe mir Notizen gemacht. Viel leicht ist ja alles gar nicht wahr. Aber er sagte, Rocco hätte ein Haus in einem Schwulenviertel besessen. In Baton Rouge. Wahrscheinlich ist das Haus nicht auf seinen Namen eingetragen. Aber die Nachbarn müssen ihn kennen. Im Haus könnten eine Menge Beweismittel
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