Die Dämonen ruhen nicht
Eigentlich wollte ihre Mutter die Küche im französischen Landhausstil einrichten und hatte geplant, alte Möbel, blauweiße Vorhänge und vielleicht sogar hübsche Fliesen für die Wände aufzutreiben. Doch sie bekam keine Gelegenheit mehr dazu. Also ist die Küche weiß geblieben, einfach nur weiß. Falls eines der Geräte endgültig den Geist aufgeben sollte, würde ihr Vater sich gewiss weigern, es zu ersetzen, und sich, wenn nötig, jeden Abend etwas beim Lieferservice bestellen. Es quält Nic, dass sich ihr Vater nicht von der Vergangenheit lösen kann. Stille Trauer und Wut halten ihn in Geiselhaft.
Nic schiebt ihren Stuhl zurück. Als sie ihren Vater auf den Scheitel küsst, treten ihr Tränen in die Augen.
»Ich liebe dich, Papa. Pass gut auf Buddy auf. Ich schwöre dir, dass ich irgendwann noch eine gute Mutter werde.«
»Du bist eine gute Mutter.« Er blickt von seinem Platz am Tisch zu ihr auf und stochert im Rührei herum. »Es geht nicht darum, wie viel Zeit du investierst, sondern was du mit dieser Zeit anfängst.«
Nic denkt an ihre Mutter. Sie hatte nur wenig Zeit, doch jede Minute davon war schön. So erscheint es ihr zumindest im Rückblick.
»Du weinst ja«, sagt ihr Vater. »Willst du mir nicht verraten, was, um Himmels willen, mit dir los ist, Nic?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht. Ich kümmere mich um meinen ganzen Kram, und plötzlich breche ich in Tränen aus. Ich glaube, es ist wegen Mama, wie ich dir schon erklärt habe. Das, was zurzeit hier passiert, erinnert mich an sie oder hat zumindest irgendeine Falltür in meinem Gedächtnis geöffnet. Eine Tür, von deren Existenz ich bis jetzt gar nichts wusste und die hinunter in ein dunkles Loch führt, vor dem ich eine Todesangst habe. Papa, bitte, mach für mich Licht. Bitte.«
Langsam steht er vom Tisch auf. Ihm ist klar, was sie meint. Er seufzt.
»Tu dir das nicht an, Nic«, stößt er hervor. »Schließlich weiß ich nur zu gut, was der Tod deiner Mutter bei mir angerichtet hat. Ich habe aufgehört zu leben. Das ist dir bestimmt nicht entgangen. Als ich an diesem Tag am frühen Abend nach Hause kam und sah ...« Er räuspert sich und unterdrückt die Tränen. »Ich habe gespürt, wie sich in mir etwas bewegte, so als hätte ich mir einen Muskel im Herzen gezerrt. Warum möchtest du dich mit diesen Bildern belasten?«
»Weil es die Wahrheit ist. Vielleicht sind die Bilder, die ich mir davon mache, sogar schlimmer, weil ich die echten nicht kenne.« Er nickt und seufzt wieder auf. »Geh rauf auf den Speicher. Unter dem Teppichhaufen in der Ecke liegt ein kleiner blauer Koffer. Er gehörte ihr. Sie hatte ihn mit Rabattmarken bezahlt.«
»Ich erinnere mich«, flüstert Nic und denkt an den Tag, als ihre Mutter mit dem blauen Koffer aus dem Haus ging, um nach Nashville zu fahren und dort eine Tante zu besuchen, die eine Augenoperation gehabt hatte.
»Das Nummernschloss war nie eingestellt, weil sie sagte, sie könnte sich die Zahlen sowieso nicht merken. Es steht noch auf null-null-null, als wäre der Koffer nagelneu.« Wieder räuspert er sich und fährt fort: »Was du suchst, ist da drin. Einige Dinge, die ich eigentlich gar nicht besitzen dürfte. Doch ich war wie du. Ich musste es genau wissen. Da die Tochter des Polizeichefs meine Schülerin war, genoss ich ein paar Privilegien, auch wenn es mir peinlich ist, das zuzugeben. Ich habe ihrem Vater nämlich versprochen, sie besser zu benoten, als sie es verdiente. Sie bekam von mir eine Empfehlung fürs College, die nichts weiter war als eine dicke, fette Lüge. Zur Strafe habe ich das gekriegt, worum ich gebeten hatte«, spricht er weiter. »Aber bring die Sachen bloß nicht nach unten. Ich will sie nie wieder sehen.«
99
Die stellvertretende Pressesprecherin Jayne Gittleman entschuldigt sich überschwänglich, weil sie Scarpetta hat warten lassen.
Eine Viertelstunde lang stand Scarpetta vor der Eingangstür, direkt unter dem Schild mit der Aufschrift Justizvollzugsanstalt Allan AB. Polunsky, und schwitzte in der heißen Sonne. Nach der Reise fühlt sie sich schmutzig und zerknittert. Sie ist mit ihrer Geduld fast am Ende, obwohl sie sich vorgenommen hat, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. Sie will die Sache unbedingt und endlich, endlich hinter sich bringen.
»Ständig rufen Journalisten an, weil wir heute Abend eine Hinrichtung haben«, erklärt Jayne Gittleman.
Sie reicht Scarpetta einen Besucherausweis; Scarpetta heftet ihn an das Revers des Hosenanzugs, den
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