Die Dämonen ruhen nicht
gelangweilt und voller Sehnsucht nach mir, Madame Scarpetta.
Und ich? Ich langweile mich nicht, denn Sie sind hier bei mir in der Zelle, ohne eigenen Willen und ganz und gar in meinem Bann. Das müssen Sie doch wissen. Das müssen Sie spüren. Lassen Sie mich nach denken. Kann ich die Male zählen? Vier, fünf oder fünfzehn Mal am Tag reiße ich Ihnen die hübschen Kostüme vom Leib, die Sie tragen - die haute couture von Madame Scarpetta, der Ärztin, der Anwältin, der Vorgesetzten. Ich zerreiße den Stoff mit meinen bloßen Händen und beiße in diese prallen Brüste, während Sie erschaudern und sterben vor Begierde...«
»Will er auf etwas Bestimmtes hinaus?« Bentons Stimme klingt wie das Einrasten eines Pistolenschiebers. »Dieses pornographische Geschwätz interessiert mich nicht. Was verlangt er?«
Marino mustert ihn eindringlich, hält inne und dreht dann die Seite um. Schweißperlen stehen auf seiner Halbglatze und rinnen die Schläfen hinab. Er liest, was auf der Rückseite des glatten weißen Bogens steht.
»Ich muss Sie sehen! Sie haben keine andere Wahl, außer, es ist Ihnen gleichgültig, dass noch mehr Unschuldige sterben. Was nicht heißt, dass irgendjemand unschuldig ist. Ic h w erde Ihnen alles Notwendige mitteilen. Aber ich muss Sie mit eigenen Augen sehen, während ich Ihnen die Wahrheit sage. Und dann werden Sie mich töten.«
Marino hält inne. »Da steht noch mehr Scheiße drin, die du dir aber nicht anzuhören brauchst...«
»Und sie weiß nichts davon?«
»Tja«, weicht Marino aus, »nicht wirklich. Wie ich schon sagte, habe ich ihr den Brief nicht gezeigt. Ich habe ihr nur erzählt, dass ich einen bekommen habe und dass Wolfmann sie sehen und als Gegenleistung für einen Besuch mit Informationen herausrücken will. Und dass er verlangt, sie soll ihm die Nadel geben.«
»Normalerweise setzen Strafanstalten zivile Ärzte, also ganz normale Mediziner von draußen, zur Verabreichung des Giftcocktails ein«, stellt Benton zusammenhanglos fest, als ob er Marinos Antwort nicht gehört hätte. Dann wechselt er das Thema. »Habt ihr die Briefe mit Ninhydrin untersucht? Das kann ich hier natürlich nicht feststellen, weil es sich um Fotokopien handelt.«
Die Chemikalie Ninhydrin hätte auf die Aminosäuren in Fingerabdrücken reagiert und Teile des Briefes dunkelviolett verfärbt.
»Ich wollte sie nicht beschädigen«, erwidert Marino.
»Was ist mit einer alternierenden Lichtquelle? Etwas Nicht - schädigendes wie Luma-Light?«
Als Marino nicht antwortet, bringt Benton den offensichtlichen Einwand vor.
»Ihr habt nichts unternommen, um zu beweisen, dass diese Briefe wirklich von Jean-Baptiste Chandonne stammen, und nur Mutmaßungen angestellt? Ach, du meine Güte!« Benton reibt mit den Händen über sein Gesicht. »Du heiliger Strohsack. Du kommst hierher - zu mir -, gehst ein derartiges Risiko ein und hast nicht einmal einen Beweis dafür, dass er diese
Briefe geschrieben hat? Und lass mich raten: Du hast die Rückseiten der Briefmarken und die Umschlaglasche auch nicht auf DNS-Spuren untersuchen lassen. Was ist mit dem Poststempel? Dem Absender?«
»Einen Absender gibt es nicht - keinen persönlichen, meine ich - und auch keinen Poststempel, der uns sagen könnte, wo der Brief abgeschickt wurde«, räumt Marino, inzwischen heftig schwitzend, ein.
Benton beugt sich vor. »Was? Hat er den Brief etwa selbst eingeworfen? Ist die Absenderadresse nicht seine? Wovon, zum Teufel, redest du? Wie hat er es geschafft, dir etwas ohne Poststempel zu schicken?«
Marino entfaltet ein weiteres Stück Papier und reicht es ihm. Es ist die Fotokopie eines weißen, fünfundzwanzig mal dreiunddreißig Zentimeter großen weißen, mit einer Frankiermaschine der gemeinnützigen National Academy of Justice frankierten Umschlags.
»Tja, ich glaube, wir beide kennen diese Dinger«, erwidert Benton und betrachtet die Kopie, »da wir beide den Großteil unseres Lebens Mitglieder bei der NAJ sind. Wenigstens war ich es mal. Ich sage es zwar nur ungern, aber ich stehe nicht mehr in ihrem Postverteiler.« Er hält inne und stellt fest, dass die Aufschrift First Class Mail gleich unterhalb des Aufdrucks der Frankiermaschine durchgestrichen wurde.
»Mir fällt dafür keine mögliche Erklärung ein«, sagt er.
»Der NAJ-Umschlag lag in meiner Post«, führt Marino aus, »und als ich ihn aufmachte, waren die beiden Briefe darin. Einer an mich und einer an Doc Scarpetta. Zugeklebt und mit der Aufschrift
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