Die Dämonen ruhen nicht
Texas. Und dann hat er sich zu allem Überfluss schuldig bekannt. Warum? Weil er nach Texas ausgeliefert werden wollte. Das war seine Entscheidung, nicht die des Gouverneurs von Virginia.«
»Auf keinen Fall«, protestiert Marino. »Unser ehrgeiziger Gouverneur von Virginia wollte Washington nicht gegen sich aufbringen, indem er den Franzosen, dem größten Anti-Todesstrafen-Land der Welt, ans Bein pinkelt. Also haben die Texaner Chandonne gekriegt.«
Benton schüttelt den Kopf. »Falsch. Jean-Baptiste hat Jean- Baptiste an Texas ausgeliefert.«
»Und woher, verdammt, willst du das wissen? Hast du mit jemandem geredet? Ich dachte, du sprichst nicht mit anderen Leuten.«
Benton antwortet nicht.
»Ich kapiere es nicht«, fährt Marino fort. »Warum sollte Wolfmann so auf Texas stehen?«
»Ihm war klar, dass er dort schneller sterben würde, und genau das wollte er. Es gehörte zu seinem Plan. Er hatte nie die Absicht, zehn oder fünfzehn Jahre lang in der Todeszelle zu verrotten. Und in Texas waren die Chancen viel höher, dass er mit seinem Spiel Erfolg hat. In Virginia hätte man womöglich dem politischen Druck nachgegeben und seine Hinrichtung verschoben. Außerdem ist es in Virginia sehr eng für ihn. Er wäre auf Schritt und Tritt überwacht worden und hätte weniger Freiheiten gehabt, denn Polizei und Justizvollzugsbeamte hätten es sich zur Aufgabe gemacht, für seine Sicherheit und sein Wohlverhalten zu sorgen. Man hätte ihn Tag und Nacht kontrolliert. Behaupte jetzt bloß nicht, dass man nicht auch seine Post heimlich überprüfen würde, wenn er in Virginia im Gefängnis säße. Zum Teufel mit seinen gesetzlich verbrieften Rechten.«
»In Virginia wäre sein Arsch auf dem elektrischen Stuhl gelandet«, wirft Marino ein. »Nach allem, was er getan hat.«
»Er hat eine Verkäuferin und einen Polizisten umgebracht und hätte beinahe die Chefpathologin ermordet. Der damalige Gouverneur ist heute Senator und Vorsitzender des Democratic National Committee. Da er die Franzosen durch die Verhängung der Todesstrafe nicht verärgern wollte, hat er alles getan, um sich in Washington nicht unbeliebt zu machen. Der Gouverneur von Texas hingegen ist schon in seiner zweiten Amtszeit und außerdem ein schießwütiger Republikaner, den es einen Dreck interessiert, wem er ans Bein pinkelt.« »Die Chefpathologin ? Du schaffst es offenbar nicht, ihren Namen auszusprechen!«, ruft Marino ungläubig aus.
19
Vor ein paar Jahren hat Lucy Farinellis Tante Kay ihr eine Anekdote von dem abgeschlagenen Kopf eines deutschen Soldaten erzählt, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war.
Wie sie Lucy berichtete, war die Leiche irgendwo in Polen im Sand vergraben gefunden worden. Durch die Trockenheit waren das arisch kurze blonde Haar, das attraktive Gesicht und sogar die Bartstoppeln am Kinn noch bemerkenswert gut erhalten gewesen. Als Scarpetta den Kopf in der Vitrine eines polnischen gerichtsmedizinischen Instituts, wo sie einen Gastvortrag halten sollte, stehen sah, fühlte sie sich, wie sie sagte, an das Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud erinnert.
»Seine Schneidezähne waren abgebrochen«, setzte Scarpetta ihre Geschichte fort und erklärte weiter, dass sie die beschädigten Zähne nicht für eine nach dem Tod zugefügte Verletzung oder eine Verwundung hielt, die dem jungen Nazi beim oder kurz vor dem Sterben zugefügt wurde. Die Zähne waren einfach nur schlecht versorgt. »Leicht aufgesetzte Schusswunde an der rechten Schläfe«, schilderte sie die Todesursache des Nazis. »Der Schusskanal zeigt, wie die Waffe gehalten wurde - in diesem Fall abwärts. Bei einem Selbstmord hält man die Waffe meistens gerade oder nach oben. In diesem Fall gab es keine Schmauchspuren, weil die Wunde gereinigt und das Haar ringsherum in der Pathologie abrasiert wurde. Dorthin hatte man die mumifizierte Leiche geschickt, um sicherzugehen, dass der Tod nicht erst vor kurzem eingetreten war. So sagte man mir wenigstens, als ich meinen Vortrag an der Pomorska Akadamia Medyczna hielt.«Lucy muss nur deshalb an den geköpften Nazi denken, weil an der nordöstlichen Grenze von Deutschland ihr Auto durchsucht wird. Der deutsche Grenzer hat blaue Augen, ist blond und wirkt viel zu jung für die Gleichgültigkeit, mit der er sich in ihren schwarzen gemieteten Mercedes beugt und das Licht einer Taschenlampe über die Ledersitze gleiten lässt. Anschließend leuchtet er den mit schwarzem Teppich belegten Boden ab. Der starke Lichtstrahl fällt
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