Die Dämonen ruhen nicht
>Anwaltsbrief<. Vermutlich für den Fall, dass jemand in der Gefängnisverwaltung durch den NAJ-Umschlag neugierig wird und beschließt, das Kuvert aufzureißen. Sonst standen auf den Umschlägen nur noch unsere Namen.«
Beide Männer schweigen eine Weile. Marino raucht und trinkt Bier.»Okay, ich habe da eine Idee, anders kann ich es mir nicht vorstellen«, spricht er dann weiter. »Ich habe mich bei der NAJ erkundigt: Angefangen beim Gefängnisdirektor bis hinunter zum Wachpersonal sind sechsundfünfzig Mitarbeiter der Strafanstalt Mitglieder. Also wundert sich niemand, wenn er irgendwo so einen Umschlag herumliegen sieht.«
Benton schüttelt den Kopf. »Aber deine Adresse steht in Druckbuchstaben darauf. Mit der Schreibmaschine geschrieben. Wie hätte Chandonne das tun sollen?«
»Wie, zum Teufel, hältst du es in dieser Bude eigentlich aus? Hast du keine Klimaanlage? ... Wir haben die Umschläge untersucht, in denen die Briefe waren. Selbstklebend. Also brauchte er nichts abzulecken.«
Das ist ein Ausweichmanöver, und Marino ist sich dessen bewusst. Abgeschilferte Hautzellen haften auch an Klebestreifen. Aber er will Bentons Frage nicht beantworten.
»Wie hat Chandonne es hingekriegt, dir die Briefe in so einem Umschlag zu schicken?« Benton wedelt mit der Kopie unter Marinos Nase. »Und findest du es nicht ein bisschen seltsam, dass First Class Mail durchgestrichen ist? Was könnte das bedeuten?«
»Vermutlich müssen wir Wolfmann selbst fragen«, schnauzt Marino zurück. »Ich habe keine Ahnung, verdammt.«
»Und dennoch scheinst du ganz sicher zu sein, dass diese Briefe von Jean-Baptiste stammen.« Benton legt sich jedes Wort sorgfältig zurecht. »Pete. Dazu bist du zu gut.«
Marino wischt sich die Stirn mit dem Ärmel ab. »Pass auf, es ist eine Tatsache, dass wir keine wissenschaftlichen Beweise haben, die irgendetwas belegen. Doch das heißt nicht, dass wir es nicht versucht hätten. Wir haben Luma-Light angewendet und alles auf DNS-Spuren untersucht, und bis jetzt ist alles blitzsauber.«
»Habt ihr auf mitochondriale DNS getestet?«
»Wozu die Mühe? Das würde Monate dauern, und bis dahin ist er längst tot. Außerdem würden wir mit dieser Methode auch nicht mehr rauskriegen, verflucht. Zum Teufel noch mal, glaubst du nicht, dass es den Typen einfach nur scharf macht, einen Umschlag der National Academy of Justice zu benutzen? Dass es ihm einen Kick gibt? Vielleicht holt er sich ja einen runter, während er sich vorstellt, wie wir all diese Tests veranstalten, immer in dem Wissen, dass nichts dabei rauskommen wird. Er brauchte sich doch nur Klopapier oder sonst was um die Hände zu wickeln, bevor er etwas angefasst hat.«
»Kann sein«, sagt Benton.
Marino steht kurz vor einem Wutausbruch. Seine Geduld ist gleich zu Ende.
»Immer mit der Ruhe, Pete«, meint Benton. »Wenn ich nicht fragen würde, würdest du mich nicht mehr ernst nehmen.«
Marino starrt ins Leere, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Willst du meine Meinung hören?«, fährt Benton fort. »Er hat die Briefe geschrieben und sich Mühe gegeben, keine Spuren zu hinterlassen. Ich weiß nicht, woher er sich einen Umschlag der National Academy of Justice besorgt hat, und, ja, es macht ihn wahrscheinlich wirklich geil, ihn zu benutzen. Offen gestanden wundert es mich, dass er sich erst jetzt bei dir meldet. Die Briefe klingen echt. Sie haben nicht den falschen Unterton, als wären sie von einem Witzbold geschrieben. Außerdem wissen wir, dass Jean-Baptiste Fetischist und auf Brüste fixiert ist.« Das sagt er ganz sachlich. »Und wir können mit ziemlicher Gewissheit annehmen, dass er über Informationen verfügt, die seine kriminelle Familie und das Kartell vernichten würden. Dass er solche Bedingungen stellt, passt zu seiner unersättlichen Gier, andere Menschen zu beherrschen und Macht auszuüben.«
»Und was ist mit seiner Behauptung, dass Doc Scarpetta ihn sehen will?«
»Erklär es mir.«
»Sie hat ihm nie geschrieben. Das habe ich sie direkt gefragt.
Warum, verdammt noch mal, sollte sie mit diesem Stück Scheiße korrespondieren? Ich habe ihr von den Umschlägen der National Academy of Justice erzählt, in denen die Briefe an sie und mich waren. Ich habe ihr eine Kopie gezeigt ...«
»Wovon?«, fällt Benton ihm ins Wort.
»Eine Kopie des Umschlags von der National Academy of Justice.« Allmählich fällt ihm der Ex-FBI-Mann auf die Nerven. »Von dem Kuvert, in dem die Briefe von Wolfmann an sie und an mich waren.
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