Die Dämonen ruhen nicht
auf Lucys abgewetzten ledernen Aktenkoffer und die roten Reisetaschen von Nike auf dem Rücksitz. Nachdem er den Beifahrersitz ein paar Mal angeblinkt hat, geht er nach hinten zum Kofferraum, macht ihn auf und schließt ihn nach einem flüchtigen Blick.
Wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die beiden Reisetaschen zu öffnen und die Kleider zu durchwühlen, hätte er einen ganz speziellen Totschläger entdeckt. Dieser sieht eigentlich aus wie ein Angelrutengriff aus schwarzem Gummi, lässt sich jedoch mit einer raschen Bewegung des Handgelenks zu einem sechzig Zentimeter langen Knüppel aus gehärtetem Stahl ausfahren, mit dem man Knochen brechen und Gewebe - einschließlich der inneren Organe im Bauchraum - zerschmettern kann.
Lucy hat eine Erklärung für das Vorhandensein dieser Waffe parat, die verhältnismäßig wenig bekannt ist und eigentlich nur von Polizeikräften benutzt wird. Sie würde behaupten, ihr überbehütender Freund hätte ihr den Totschläger zur Selbstverteidigung mitgegeben, weil sie Geschäftsfrau ist und häufig allein reist. Offen gestanden wisse sie gar nicht genau, wie man das Ding benutzt, würde sie verlegen erklären, doch er habe darauf bestanden und ihr versichert, es sei absolut in Ordnung, so etwas im Gepäck zu haben. Und wenn die Polizei den Totschläger konfiszieren wolle, spiele das für sie keine Rolle. Allerdings ist Lucy erleichtert, als niemand ihn entdeckt; auch der Grenzer in blassgrüner Uniform, der in seinem Kabuff ihren Pass kontrolliert, findet es offenbar nicht merkwürdig, dass eine junge Amerikanerin mitten in der Nacht in einem Mercedes herumfährt.
»Was ist der Zweck Ihres Besuches?«, fragt er in holperigem Englisch.
»Geschäftlich.« Sie verrät ihm nicht, um welche Art von Geschäft es sich handelt, hat jedoch eine Antwort parat, falls es nötig werden sollte.
Er greift zum Telefon und sagt etwas, das Lucy nicht versteht, allerdings ahnt sie, dass er nicht über sie spricht - oder dass es, wenn doch, nicht weiter wichtig ist. Sie hat damit gerechnet, dass ihre Sachen durchsucht werden, und ist darauf vorbereitet. Auch eine Befragung hat sie erwartet. Aber der Grenzer, der sie an den Geköpften erinnert, gibt ihr den Pass zurück.
»Danke«, sagt sie höflich, doch insgeheim hält sie ihn für eine Schlafmütze.
Die Welt ist voller Faulpelze wie ihn.
Er winkt sie durch.
Langsam rollt sie weiter und überquert die Grenze nach Polen, wo ein anderer Grenzer, diesmal ein Pole, dasselbe Spiel mit ihr veranstaltet. Es kommt weder zu einem Verhör noch zu einer gründlichen Durchsuchung, und es ist nichts zu spüren als Schläfrigkeit und Langeweile. Das ist zu einfach. Ihr Argwohn regt sich. Ihr fällt ein, dass sie immer misstrauisch sein sollte, wenn etwas zu glatt geht, und sie malt sich Gestaposchergen, SS-Männer und grausige Geister der Vergangenheit aus, die sie verfolgen. Angst steigt auf wie Körpergeruch, eine Angst, die grundlos und unvernünftig ist. Schweiß rinnt ihr unter der Windjacke die Seiten hinunter, als sie an die Polen denkt, die überrannt wurden und denen man die Identität und das Leben genommen hat, in einem Krieg, den Lucy nur aus Geschichtsbüchern kennt.
Das ist kein so großer Unterschied dazu, wie Benton Wes- ley sein Leben fristet, und Lucy fragt sich, was er wohl denken und empfinden würde, wenn er wüsste, dass sie in Polen ist und warum. Kein Tag vergeht, an dem sein Schicksal nicht ihr Leben überschattet.
20
Wie viel Berufserfahrung sie hat, ist ihr nur anzumerken, wenn sie ihr Wissen mit voller Absicht als Waffe einsetzt.
Noch während der Highschool-Zeit hat sie Praktika beim FBI abgeleistet und dort das Criminal Artificial Intelligence Network, genannt CAIN, aufgebaut. Nach ihrem Abschluss an der University of Virginia wurde sie Special Agent beim FBI und hatte als Computer- und Technikexpertin freie Bahn. Sie war die erste Frau in der Spezialabteilung Geiselbefreiung des FBI und hatte bei jedem Einsatz und jeder Schinderei, die sich Lehrgang nannte, mit Feindseligkeiten, Schikanen und Anspielungen unter der Gürtellinie zu kämpfen. Nur selten haben Männer sie aufgefordert, mit ihnen in der Bar der Academy namens Boardroom ein Bier zu trinken. Die Kollegen sprachen nicht mit ihr über schief gelaufene Einsätze oder über ihre Frauen, Kinder und Freundinnen. Aber sie beobachteten sie. Und im Waschraum wurde über sie gelästert.
Lucys Karriere beim FBI fand an einem nebligen Oktobermorgen ihr Ende, als sie
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