Die Dämonen ruhen nicht
heißt Robert Leary. Er ist ein weißer Mann mit braunem Haar und braunen Augen, schätzungsweise eins vierundsiebzig groß und neunzig Kilo schwer. Diese Informationen und noch weitere, einschließlich der Registriernummer auf dem Ausweis mit Foto, der am Sonnenschutz klemmt, werden in ein nachfüllbares brieftaschengroßes Notizbuch eingetragen, das Benton auf Schritt und Tritt begleitet. In seinem Hotelzimmer angekommen, wird er wie immer die Daten in seinen Laptop übertragen. Seit seinem Eintritt in das Zeugenschutzprogramm hat Benton jede Unternehmung, jeden aufgesuchten Ort und jeden Menschen, dem er begegnet - vor allem, wenn es mehr als einmal war -, notiert, und er schreibt sogar auf, wie das Wetter ist, ob er trainiert hat und was es zu essen gab.
Robert Leary hat schon öfter versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, aber Benton starrt nur wortlos aus dem Fenster. Der Fahrer hat natürlich keine Ahnung, dass der Mann mit dem gebräunten, markanten, bärtigen Gesicht und dem rasierten Schädel sich schweigend Argumente zurechtlegt, taktische Anforderungen durchgeht und alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten aus sämtlichen vorstellbaren Blickwinkeln beleuchtet. Zweifellos findet der Taxifahrer, er habe Pech gehabt und einen komischen Kauz aufgegabelt, den es - nach seinem schäbigen Gepäck zu urteilen - vermutlich ziemlich schlimm erwischt hat.
»Sind Sie sicher, dass Sie die Fahrt bezahlen können?«, fragt er, inzwischen ziemlich fordernd, nun schon zum dritten Mal. »Sie wissen ja, dass es nicht billig wird, abhängig davon, welchen Weg ich nehme, vom Verkehr und davon, welche Straßen in der Stadt gesperrt sind. Heutzutage kann man nie sagen, welche Straßen die Cops sperren. Sicherheit. Das wird inzwischen groß geschrieben. Ich persönlich bin ja kein Fan von Maschinengewehren und Typen in Tarnuniform.«
»Ich kann bezahlen«, erwidert Benton.
Die Scheinwerfer überholender Autos strahlen ins Fenster und erleuchten kurz sein ernstes Gesicht. Eines steht für Benton fest: Jean-Baptiste Chandonnes Mordversuch an Scarpetta hatte keinen Sinn und keine Bedeutung, abgesehen von der bemerkenswerten Tatsache, dass sie ihren Verstand benutzt und überlebt hat. Gott sei Dank, Gott sei Dank. Auch andere Bemühungen, ihr den Garaus zu machen, haben keine weitere Bedeutung als das Wunder, dass sie ebenfalls gescheitert sind. Benton ist mit den Einzelheiten gut vertraut. Vielleicht weiß er nicht alles, aber das, was er aus den Nachrichten hat, genügt ihm.
Jeder der Beteiligten an seinem Plan ist entweder am Rande oder unmittelbar in das Netzwerk des Bösen verstrickt, das die Chandonnes so kunstvoll geknüpft haben. Benton ist genau darüber im Bilde, was den Chandonnes Macht gibt und was ihnen die Kraft raubt. Er kennt die Verbindungsstücke, ohne die die Kanäle zwischen den Drohnen und der Führungsebene nicht funktionieren. Das Problem zu lösen war bis jetzt so kompliziert, dass noch niemand dahinter gekommen ist. Allerdings hatte Benton sechs Jahre Zeit, sich ungestört damit zu beschäftigen.
Die Antwort liegt, wie er herausgefunden hat, auf der Hand: Man muss die Drähte präzise durchschneiden, die Isolierung entfernen, die Verbindung kappen und dann die einzelnen Stränge voneinander trennen; danach zieht man neue Leitungen und koppelt sie so zusammen, dass die Verbrecher einen Kurzschluss erleiden und das Imperium der Chandonnes implodiert. Währenddessen wird Benton - der tote Benton - unbemerkt sein Meisterstück beobachten, als wäre es ein Videospiel. Keiner der Beteiligten ahnt, was vor sich geht; er hat nur das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmt und dass dieses Etwas offenbar von Verrätern aus den eigenen Reihen in Gang gesetzt worden ist. Die Hauptdarsteller müssen sterben. Die Nebenrollen, deren Besetzung Benton vielfach nicht kennt, werden die Schuld bekommen und als Verräter gebrandmarkt werden. Und dann ist auch ihr Schicksal besiegelt
Auf diese Weise wird Benton seine Feinde gegeneinander ausspielen und sie, einen nach dem anderen, auslöschen. Seinen Berechnungen nach wird das Bündnis aus ihm selbst und denen, die gar nicht wissen, dass sie zu seiner Privatarmee gehören, die Mission in wenigen Monaten oder sogar Wochen abgeschlossen haben. Er schätzt, dass Rocco Caggiano bereits tot ist oder bald das Zeitliche segnen wird, kaltblütig ermordet, geplant hingerichtet. Auch wenn Lucy und Rudy wissen, was sie tun oder getan haben, sie ahnen nicht, dass es sich um ein
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