Die Dämonen ruhen nicht
Videospiel handelt. Und dass sie selbst Figuren darin sind.
Allerdings hätte Benton nie im Leben damit gerechnet - und es war auch nicht vorauszusehen -, dass Kay Scarpetta Verbindung nach Baton Rouge aufnehmen könnte, dem strategisch wichtigsten Punkt auf Bentons gedachter Landkarte. Aus irgendeinem Grund ist dieser Teil seines beinahe perfekten Plans gescheitert. Die Ursache dafür kennt er nicht, und er weiß nicht, was passiert ist. Immer wieder geht er jede Einzelheit durch, doch am Ende des Vorgangs ist der Bildschirm stets dunkel, und ein nutzloser Cursor blinkt ihn an. Nun muss Benton sich beeilen, obwohl Eile eigentlich gegen seine Grundsätze verstößt. Scarpetta hätte nie auch nur den geringsten Kontakt mit irgendetwas oder irgendjemandem in Baton Rouge haben dürfen. Nur Marino. Und Das Letzte Revier.
Wenn Marino vom Tod seines Sohnes erfährt, wird er unweigerlich Roccos letzte Schritte nachvollziehen wollen. Das wiederum wird Marino und seine Mitstreiter nach Baton Rouge führen, wo Rocco schon seit vielen Jahren eine Wohnung unterhält. Baton Rouge hat einen gewaltigen Hafen. An der Golfküste lässt sich ein Vermögen machen. Die verschiedensten wertvollen und gefährlichen Güter werden täglich auf dem Mississippi transportiert. Baton Rouge gehört ebenfalls zum Imperium der Chandonnes; Rocco hat dort viele Erfolge gefeiert und genießt so manchen Vorteil, zum Beispiel Immunität gegen polizeiliche Ermittlungen. Er hat auch verschiedene Fäden gezogen, um Jay Talley und Jean-Baptiste Chandonne zu schützen, während die beiden in der Umgebung von Baton Rouge ihren wohlverdienten Spaß hatten.
Bei ihrem ersten Besuch in Baton Rouge waren Jean-Baptiste und Jay erst sechzehn gewesen. Jean-Baptiste sammelte Erfahrungen als Mörder, indem er Prostituierte umbrachte, nachdem diese Jay zu Diensten gewesen waren. Die Fälle wurden nie miteinander in Verbindung gebracht, denn der damalige Leichenbeschauer übertrug die Ermittlungen an andere Behörden, und die Polizei hatte kein großes Interesse an Prostituierten.
Ein Schritt wird zum anderen führen, bis Marino Jay Talley und Bev Kiffin in Baton Rouge aufgespürt und umgelegt hat. So sieht der ursprüngliche Plan aus. Scarpetta darf nichts damit zu tun haben. An Bentons Schläfen pulsiert es heftig.
Er hält das Handgelenk dicht ans Gesicht, kann aber die Zeit nicht von der billigen schwarzen Plastikuhr ablesen, weil der Zeiger nicht selbstleuchtend ist. Das ist Absicht. Dinge, die im Dunklen leuchten, könnten ihm zum Verhängnis werden.
»Wann sind wir voraussichtlich da?«, fragt er im selben abweisenden Ton wie vorhin.
»Weiß nicht genau«, erwidert der Fahrer. »Kommt drauf an, ob wir weiter so wenig Verkehr haben. Vielleicht in zwei bis zweieinhalb Stunden.«
Ein Auto fährt dicht auf, sodass seine Scheinwerfer blendend weiß im Rückspiegel des Taxis reflektieren. Der Fahrer flucht, als ein schwarzer Porsche 911 überholt; seine immer kleiner werdenden roten Rückleuchten lassen Benton an die Hölle denken.
31
Scarpetta starrt auf den ungeöffneten Brief. Durch die offene Tür strömt ungehindert feuchtwarme Luft herein.
Wolken schweben wie schwarze Blumen am Horizont, und Scarpetta ahnt, dass es noch vor Morgengrauen regnen wird. Dann werden die Fenster, wenn sie aufwacht, beschlagen sein, was sie nicht ausstehen kann. Bestimmt halten die Nachbarn sie für zwanghaft und verrückt, wenn sie, mit Badehandtüchern bewaffnet, um sieben Uhr morgens auf dem Balkon steht und hektisch das Kondenswasser von der Außenseite der Scheiben wienert. Und wegen der erzwungenen Verbindung zu ihm, die sie anekelt, stellt sie sich im nächsten Moment vor, wie er in seiner Todeszelle ohne Aussicht sitzt. Dann erscheint ihr ihre Mission, ihre Fenster von der beschlagenen, milchigen Schicht zu befreien, umso dringlicher.
Der ungeöffnete Brief, der an Madame Scarpetta, LLB adressiert ist, liegt auf einem Quadrat aus sauberem weißem Gefrierpapier. In Frankreich werden weibliche Ärzte mit Madame angesprochen. In Amerika gilt es als Beleidigung, eine Ärztin anders zu nennen als Doctor. Scarpetta fühlt sich unangenehm an schlaue Verteidiger erinnert, die sie vor Gericht mit Mrs. Scarpetta anreden, um ihren Rang und ihre beruflichen Kenntnisse unter den Tisch fallen zu lassen. Vermutlich geschieht das in der Hoffnung, dass die Geschworenen und vielleicht auch der Richter sie dann nicht so ernst nehmen wie einen richtigen Doktor der Medizin mit Fachgebiet
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