Die Dämonen ruhen nicht
zurückgekehrt, nicht einmal, um ihre Sachen zu holen. Das hat Lucy für sie erledigt.Von einem Menschen, der seine Seele stets gegen eine böse Welt und unfassbaren Schmerz abgeschottet hatte, verwandelte sie sich in eine Nomadin. Wie ein Stein, der über das Wasser hüpft, verschlug es sie von einem Hotel ins nächste. Sie tätigte ein paar Anrufe, um sich als private Beraterin zu etablieren, und war bald so in die verschlungenen Ketten von Beweisstücken, ermittlerischer Inkompetenz und polizeilicher Nachlässigkeit verstrickt, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich wieder ein Haus zu suchen, weil sie schließlich irgendwo Unterkommen musste. Es war nicht länger möglich, auf einem Hotelbett sitzend ihre Fälle zu bearbeiten.
»Zieh nach Süden, weit nach Süden«, meinte Lucy eines Nachmittags leise und liebevoll in Greenwich, Connecticut, wo Scarpetta sich in einem Homestead Inn verkrochen hatte. »Du bist noch nicht bereit für New York, Tante Kay, und du bist ganz eindeutig noch nicht weit genug, um für mich zu arbeiten.«
»Ich würde niemals für dich arbeiten.« Das war Scarpettas Ernst, und sie wandte beschämt den Blick von ihrer Nichte ab.
»Deswegen brauchst du nicht gleich beleidigend zu werden.« Auch Lucy war gekränkt, und schon eine Minute später befanden sie sich mitten in einem heftigen Streit.
»Ich habe dich großgezogen«, stieß Scarpetta, die starr vor Empörung auf dem Bett saß, hervor. »Meine gottverdammte Schwester, die berühmte Kinderbuchautorin, die keinen Dunst hatte, wie man sein eigenes Kind erzieht, hat mich einfach auf deiner Türschwelle abgesetzt... Nein, das meine ich natürlich andersherum.«
»Freud lässt grüßen! Du hast mich mehr gebraucht als ich dich.«
»Das kann wohl kaum sein. Du warst nämlich ein Ungeheuer. Als du mit zehn in mein Leben gerollt bist wie ein Trojanisches Pferd, war ich dumm genug, dich einparken zu lassen. Und dann? Und dann?« Die große Chefpathologin, die stets logisch denkende Juristin und Medizinerin, geriet ins Stottern, und Tränen liefen über ihr Gesicht. »Du musstest dich natürlich als Genie entpuppen! Als die schrecklichste Göre der Welt...« Scarpettas Stimme zitterte. »Und ich konnte dich nicht abschieben, du grässlicher Balg.« Sie bekommt kaum einen Ton heraus. »Wenn Dorothy dich zurückverlangt hätte, hätte ich das Miststück vor Gericht gezerrt und ihr ihre Unfähigkeit als Mutter nachgewiesen.«
»Sie war noch nie eine gute Mutter.« Inzwischen weinte auch Lucy. »Ein Miststück? Das ist, als würde man einer Schwerverbrecherin eine Ordnungswidrigkeit vorwerfen. Einer Schwerverbrecherin! Diese Frau hat eine Persönlichkeitsstörung. Wie, zum Teufel, bist du nur an einen Psychokrüppel als Schwester geraten?« Weinend sitzt Lucy neben ihrer Tante auf dem Bett, und ihre Schultern berühren sich.
»Sie ist der Drache, gegen den du immer kämpfst und gegen den du schon dein ganzes Leben gekämpft hast«, sagt Scarpetta. »Eigentlich kämpfst du nur gegen deine Mutter. Aber mir ist sie als Beute zu klein. Sie ist nichts weiter als ein Kaninchen mit scharfen Zähnen, das einem nach den Knöcheln schnappt. Ich vergeude meine Zeit nicht mit Kaninchen. Zeit habe ich nämlich keine.«
»Bitte, zieh nach Süden«, fleht Lucy sie an, erhebt sich vom Bett und steht mit feuchten Augen und roter Nase da. »Vorerst wenigstens. Geh hin, wo du herkommst, und fang noch mal von vorne an.«
»Ich bin zu alt, um noch mal von vorne anzufangen.«
»Schwachsinn!« Lucy lachte auf. »Du bist erst sechsundvierzig, und überall drehen sich Männer und Frauen nach dir um. Dir fällt das gar nicht auf. Und dabei bist du ein ganz hübsches Paket.«
Das einzige Mal, dass Scarpetta je als Paket bezeichnet wurde, war, als sie in selbst für sie ungewöhnlich großen Schwierigkeiten steckte und von Polizisten in Sonderschichten bewacht werden musste. Im Funk bezeichneten die Beamten sie als Paket. Scarpetta war nicht ganz sicher, wie das gemeint war.
Also ist sie nach Süden, nach Delray Beach, gezogen. Zwar nicht direkt zurück zu ihren Wurzeln, aber in die Nähe ihrer Mutter und ihrer Schwester - allerdings im notwendigen Sicherheitsabstand.
In dem Arbeitszimmer in ihrem vom Wetter gebeutelten gemieteten Haus aus den fünfziger Jahren türmen sich Papiere und steife Klemmordner aus Pappe. So viel stapelt sich auf dem Boden, dass Scarpetta sich Mühe geben muss, nicht über ihre Arbeit zu stolpern. Deshalb darf sie nicht
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