Die Dämonen ruhen nicht
geistesabwesend sein, wie sie es gewöhnt ist, wenn sie einen Raum betritt. Die Bücherregale sind voll gestopft. Einige medizinische und juristische Wälzer stehen in zweiter Reihe, während sich ihre wertvollen antiken Bücher, geschützt vor Sonnenlicht und Feuchtigkeit, in dem Raum nebenan befinden, der vermutlich als Kinderzimmer gedacht war.
Während sie in Roses selbst gemachtem Tunfischsalat herumstochert, sieht sie ihre Post durch und benutzt ein Skalpell als Brieföffner. Zuerst öffnet sie den braunen Umschlag, der offenbar von ihrer Nichte, vielleicht auch von einem Mitarbeiter in ihrem Büro ist, und entdeckt darin zu ihrem Erstaunen ein zweites Kuvert. Dieses ist weiß und unbedruckt und handschriftlich an Madame Kay Scarpetta, LLB - Legum Baccalau- reus - adressiert.
Scarpetta lässt den braunen Umschlag auf den Tisch fallen, stürmt aus dem Büro und hastet wortlos an Rose vorbei und in die Küche, um Gefrierpapier zu holen.
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Taxis erinnern Benton an Insekten.
Während seines Exils hat er gewisse Insekten schätzen gelernt. Stabheuschrecken haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Zweiglein. Benton schlendert oft gedankenverloren durch Parks und Bürgersteige entlang und sucht geduldig das Gebüsch nach Stabheuschrecken oder sogar einer Gottesanbeterin ab, die ausgesprochen selten und deshalb ein gutes Omen ist. Allerdings hat er noch nie erlebt, dass sich sein Schicksal direkt nach einer Begegnung mit einer Gottesanbeterin zum Positiven gewendet hätte.
Vielleicht wird das ja eines Tages passieren. Marienkäfer bringen Glück. Das weiß jeder. Wenn sich ein Marienkäfer ins Zimmer verirrt, lockt Benton ihn sanft auf seinen Finger, trägt ihn nach draußen und setzt ihn auf einen Busch, ganz gleich, wie viele Treppen er dazu auch steigen muss.
Innerhalb einer Woche ist es nun schon zehn Mal dazu gekommen, und ihm gefiel die Vorstellung, dass es vielleicht immer dieselbe Marienkäferdame war, die mit ihm flirtete. Benton glaubt, dass jede gute Tat einmal belohnt wird. Außerdem ist er überzeugt davon, dass das Böse irgendwann seine gerechte Strafe erhält. Vor dem Beginn seiner Nichtexistenz hat er mit Scarpetta oft über dieses Thema gestritten. Denn damals hat er noch nicht so gedacht. Sie schon.
Auch wenn wir den Grund der Dinge nicht immer kennen, Benton, bin ich sicher, dass es einen gibt.
Als er auf der dunklen Rückbank eines Taxis nach Süden fährt, hört er Scarpettas Stimme in einem weit entfernten Gewölbe seines Gehirns.
Wie kannst du das sagen?
Und seine eigene Stimme antwortet:
Weil ich genug gesehen habe, um das behaupten zu können.Welchen Grund kann es dafür geben, dass eine Schwester, eine Tochter, ein Bruder, ein Sohn, ein Eltemteil oder ein Lebenspartner vergewaltigt, gefoltert und ermordet wird?
Schweigen. Der Taxifahrer hört Hip-Hop.
»Könnten Sie das bitte leiser machen?«, sagt Benton höflich, diesmal laut.
Oder was ist mit der alten Frau, die vom Blitz erschlagen wurde, weil das Gestell ihres Regenschirms aus Metall war? Scarpetta erwidert nichts.
Okay, und was war mit der Familie, die an Kohlenmonoxyd-Vergiftung starb, weil niemand sie davor gewarnt hat, am offenen Kamin mit Holzkohle zu grillen, insbesondere nicht bei geschlossenen Fenstern? Was könnte das für einen Grund gehabt haben, Kay ?
Er spürt sie, ein Gefühl, das sich hält wie ihr Lieblingsparfüm. Und gibt es einen Grund dafür, dass ich ermordet wurde und für immer aus deinem Leben verschwunden bin?
Das Gespräch hat sich in einen Monolog verwandelt und lässt sich nicht mehr stoppen. Wie hat sie sich das wohl erklärt, was ihm ihres Wissens nach zugestoßen ist?, fragt er sich, überzeugt davon, dass ihr inzwischen gewiss etwas eingefallen ist.
Du rationalisierst, Kay. Du hast vergessen, was wir zum Thema Verdrängung gesagt haben.
Bentons wacher Verstand reist weiter, während er kurz nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Taxi nach Manhattan fährt. Der Kofferraum und jeder sonstige verfügbare Platz im Wagen ist mit seinen Siebensachen voll gestopft. Der Fahrer hat keinen Hehl aus seinem Ärger gemacht, als er feststellte, dass der Fahrgast eine beträchtliche Menge Gepäck mit sich führt. Doch Benton war schlau. Er hat das Taxi auf der Straße angehalten, sodass der Fahrer den hohen Gepäckhaufen auf dem dunklen Gehweg erst gesehen hat, als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als entweder davonzurasen oder den lukrativen Fahrauftrag nach New York anzunehmen.
Der Fahrer
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