Die Dämonen ruhen nicht
meint Marino augenzwinkernd und schlendert aus der Bar.
40
Zurück am Flugsteig, wird Marino von Unruhe und Ungeduld ergriffen.
Wegen des Wetters wurde sein Flug eine weitere Stunde verschoben. Plötzlich will Marino nicht mehr nach Hause zu Trixie, wo er morgens aufstehen und sich darüber klar werden wird, was eigentlich in Boston geschehen ist. Als er an sein kleines Haus mit Carport in einem Arbeiterviertel denkt, versinkt er noch tiefer in Bitterkeit, und sein Bedürfnis wächst, sich endlich zu wehren. Wenn er nur wüsste, wer der Feind ist. Er kann nicht erklären, warum er immer noch in Richmond lebt. Und auch nicht, warum er zugelassen hat, dass Benton ihn so abserviert. Er hätte in Bentons Wohnung bleiben müssen.
»Wissen Sie, was wegen des Wetters bedeutet?«, fragt Marino die junge Rothaarige, die neben ihm sitzt und sich die Nägel feilt. Wenn es zwei Formen unhöflichen Verhaltens gibt, die Marino einfach nicht ertragen kann, dann sind das Furzen in der Öffentlichkeit und das Kratzgeräusch einer Nagelfeile, begleitet von rieselndem Staub.
Die Feile setzt ihr hektisches Schmirgeln fort.
»Es heißt, dass sie noch nicht entschieden haben, ob sie unsere Ärsche überhaupt aus Boston rausfliegen sollen. Verstehen Sie? Es sind nicht genug Passagiere, als dass es sich für die Airline lohnen würde. Und wenn sie dabei Geld verliert, fliegt sie nicht und schiebt es auf höhere Gewalt.«
Die Feile erstarrt in der Luft, und die Frau lässt den Blick über Dutzende unbesetzter Plastiksitze schweifen.
»Also können Sie die ganze Nacht hier rumsitzen«, fährt Marino fort. »Oder sich mit mir ein Motelzimmer suchen.«
Nach einem Moment ungläubigen Schweigens steht sie auf und stolziert empört davon.
»Schwein!«, schimpft sie.
Marino schmunzelt, wieder ganz Gentleman und, wenn auch nur kurz, von seiner Langeweile abgelenkt. Er beschließt, nicht weiter auf einen Flug zu warten, der wahrscheinlich niemals starten wird. Außerdem muss er wieder an Benton denken. Wut und Argwohn schwappen in seinem Schädel. Das Gefühl, ohnmächtig und zurückgewiesen worden zu sein, umschließt ihn immer enger und erstickt ihn mit einer Niedergeschlagenheit, die seine Gedanken lähmt und ihn ermüdet, als hätte er tagelang nicht geschlafen. Er erträgt es nicht. Er will nicht mehr. Marino wünscht, er könnte Lucy anrufen, aber er weiß nicht, wo sie ist. Sie hat ihm nur verraten, dass sie etwas Geschäftliches erledigen und deshalb verreisen muss.
»Was für ein Geschäft?«, hat Marino sich erkundigt.
»Ein Geschäft eben.«
»Manchmal frage ich mich, warum, zum Teufel, ich für dich arbeite.«
»Das frage ich mich nie. Ich denke nie darüber nach«, erwiderte Lucy, die in ihrem Büro in Manhattan am Telefon saß. »Du betest mich eben an.«
Vor dem Logen Airport hält Marino ein Cambridge-Checker-Taxi an, indem er praktisch vor die Motorhaube läuft und mit den Armen rudert, ohne auf die Warteschlange am Taxistand und die vielen dort stehenden müden, unzufriedenen Menschen zu achten.
»Zum Ufer«, weist er den Fahrer an. »In die Nähe des Konzertpavillons.«
41
Scarpetta weiß ebenfalls nicht, wo Lucy steckt. Ihre Nichte geht weder zu Hause noch unterwegs ans Telefon und reagiert auch nicht, wenn sie sie anpiepst. Marino kann Scarpetta auch nicht erreichen, und sie hat nicht die Absicht, Rose anzurufen und ihr von dem Brief zu erzählen.
Ihre Sekretärin macht sich ohnehin schon zu viele Sorgen. Also sitzt Scarpetta auf dem Bett und überlegt. Billy läuft die Hunderampe hinauf und lässt sich in einem Abstand zu ihr nieder, in dem sie ihn noch erreichen könnte, wenn sie ihn streicheln will. Sie tut es.
»Warum sitzt du immer so weit weg?«, fragt sie ihn, während sie seine weichen Schlappohren krault. »Ach, ich verstehe. Ich soll mich bewegen und näher an dich ranrutschen.«
Sie gibt sich geschlagen.
»Weißt du, dass du ein ausgesprochen herrschsüchtiger Hund bist?«
Billy leckt ihr die Hand.
»Ich muss für ein paar Tage verreisen«, teilt sie ihm mit. »Aber Rose wird sich gut um dich kümmern. Vielleicht kannst du ja bei ihr bleiben, und dann geht sie mit dir an den Strand. Also versprich mir, dass du dich nicht aufregst, wenn ich wegfahre.«
Das tut er nie. Er läuft ihr nur nach, wenn sie sich auf den Weg macht, weil er im Auto mitfahren will. Wenn es nach ihm ginge, würde er sich den ganzen Tag spazieren fahren lassen. Scarpetta wählt noch einmal Lucys Büronummer. Obwohl die
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