Die Dämonen ruhen nicht
Bürozeiten längst vorbei sind, meldet sich dort wie immer vierundzwanzig Stunden pro Tag und sieben Tage pro Woche ein lebendiger und wacher Mensch. Heute ist Zach Manham dran.
»Also, Zach«, kommt Scarpetta sofort zur Sache. »Es istschlimm genug, dass Sie mir nicht verraten wollen, wo Lucy ist...«
»Es liegt nicht daran, dass ich nicht will...«
»Natürlich tut es das«, fällt Scarpetta ihm ins Wort. »Sie wissen es und verschweigen es mir.«
»Ich schwöre bei Gott, dass ich keine Ahnung habe«, erwidert Manham. »Hören Sie, wenn ich es wüsste, würde ich sie auf ihrem internationalen Mobiltelefon anrufen und sie wenigstens bitten, sich bei Ihnen zu melden.«
»Also hat sie das internationale Mobiltelefon dabei. Ist sie im Ausland?«
»Sie hat dieses Mobiltelefon immer dabei. Sie wissen, welches ich meine: das, mit dem man auch Fotografien und Videoaufnahmen machen und sich ins Internet einloggen kann. Sie hat das neueste Model. Es bäckt sogar Pizza.«
Im Moment ist Scarpetta nicht nach Lachen zumute.
»Ich habe es auf ihrem Mobiltelefon probiert. Sie geht nicht ran«, entgegnet sie. »Ganz gleich, ob sie nun hier oder im Ausland ist. Und was ist mit Marino? Decken Sie den ebenfalls?«
»Mit dem habe ich seit Tagen nicht geredet«, antwortet Manham. »Nein, ich weiß nicht, wo er steckt. Geht der auch nicht ans Mobiltelefon oder an den Piepser?«
»Nein.«
»Soll ich einen Lügendetektortest machen, Doc?«
»Ja.«
Manham lacht auf.
»Okay, ich gebe mich geschlagen. Ich bin zu müde, um die ganze Nacht weiterzutelefonieren«, sagt Scarpetta und krault Billys Bauch. »Falls Sie von einem der beiden hören, bitten Sie sie, sich sofort mit mir in Verbindung zu setzen. Es ist dringend. Und zwar so dringend, dass ich morgen früh deshalb nach New York fliege.«
»Was? Sind Sie in Gefahr?«, fragte Manham erschrocken.
»Darüber will ich mit Ihnen nicht sprechen, Zach. Nehmen Sie’s nicht persönlich. Gute Nacht.«
Scarpetta schließt die Schlafzimmertür ab, stellt den Wecker und legt ihre Pistole neben sich auf das Nachtschränkchen.
42
Marino findet den Taxifahrer unsympathisch und fragt ihn, woher er kommt.
»Kabul.«
»Wo genau ist Kabul?«, erkundigt sich Marino. »Ich meine, ich weiß natürlich, in welchem Land« - tut er nicht -, »aber ich kenne die geographische Lage nicht.«
»Kabul ist die Hauptstadt von Afghanistan.«
Marino versucht, sich Afghanistan vorzustellen. Ihm fallen dabei nur Diktatoren, Terroristen und Kamele ein.
»Und was machen Sie dort?«
»Dort mache ich gar nichts. Ich wohne hier.« Die dunklen Augen des Fahrers betrachten ihn im Rückspiegel. »Meine Familie hat in einer Wollspinnerei gearbeitet, und ich bin vor acht Jahren hierher gekommen. Sie sollten Kabul mal besuchen. Es ist sehr schön. Sehen Sie sich die Altstadt an. Mein Name ist Babur. Wenn Sie Fragen haben oder ein Taxi brauchen, rufen Sie meinen Unternehmer an, und fragen Sie nach mir.« Als er lächelt, leuchten seine Zähne weiß in der Dunkelheit.
Marino spürt, dass der Fahrer sich über ihn lustig macht, aber er versteht den Witz nicht. Sein Ausweis ist am Sonnenschutz des Beifahrersitzes befestigt, und Marino versucht vergeblich, ihn zu entziffern. Obwohl er nicht mehr so gut sieht wie früher, weigert er sich, eine Brille zu tragen. Scarpetta redet zwar ständig auf ihn ein, aber er lehnt auch eine Laseroperation strikt ab und beharrt felsenfest darauf, er würde davon entweder blind werden oder Schäden am Stirnlappen erleiden.»Der Weg kommt mir so unbekannt vor«, stellt Marino knurrig wie immer fest, als fremde Gebäude am Autofenster vorbeisausen.
»Wir nehmen eine Abkürzung am Hafen und an den Docks entlang und dann die Stadtautobahn. Hübsche Aussicht.«
Marino beugt sich auf der harten Sitzbank vor, wobei er einer Feder ausweichen muss, die fest entschlossen scheint, sich durch das Kunstlederpolster zu bohren und anschließend hochzuschnellen, um seine linke Pobacke zu perforieren.
»Sie fahren ja nach Norden, Sie Drecksack von einem Maultiertreiber! Ich bin zwar nicht aus Boston, aber ich weiß, wo die Uferpromenade ist, und Sie sind nicht mal auf der richtigen Seite dieses bescheuerten Flusses!«
Der Taxifahrer, der sich Babur nennt, achtet überhaupt nicht auf seinen Fahrgast, tuckert fröhlich weiter und weist Marino auf Sehenswürdigkeiten wie das Gefängnis von Suffolk County, das Massachusetts General Hospital und das Shriners-Zentrum für Brandverletzte hin. Als er
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