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Die Dämonen ruhen nicht

Die Dämonen ruhen nicht

Titel: Die Dämonen ruhen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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an einem überquellenden Müllcontainer hinter einem polnischen Restaurant in die Gefangenschaft gelockt worden sind.
    Rudy öffnet das Glas und schüttelt es. Einige Dutzend Fliegen heben träge ab, surren auf Lichtquellen zu und prallen von beleuchteten Lampenschirmen ab. Als sie die Pheromone und das Aroma einer offenen Wunde wahrnehmen, stürzen sie sich gierig auf Roccos reglose Gestalt. Schmeißfliegen, die am häufigsten vorkommenden Aas fressenden Insekten, machen sich auf seinem blutigen Gesicht breit. Einige verschwinden in seinem Mund.

39
    In Boston ist es erst zwanzig Uhr.
    Pete Marino sitzt am Flugsteig von US Air, isst Schokoladenbrezeln und lauscht einer weiteren um Verständnis bittenden Durchsage, die ihm verspricht, dass sein Flug nach einer weiteren kleinen Verspätung von nur zwei Stunden und zehn Minuten starten wird. Davor hat es bereits eine erste Verzögerung gegeben, die ihn - eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten seit dem planmäßigen Abflug - zum Gefangenen im Logen Airport gemacht hat.»Scheiße!«, ruft er aus, ohne sich darum zu kümmern, wer ihn hören könnte. »Inzwischen wäre ich wahrscheinlich schon zu Fuß da!«
    Er hat nur selten genug Zeit, um über sein Leben nachzugrübeln. Nun lenkt er sich von seinem Elend und seiner Wut ab, indem er an Benton denkt und sich dessen körperliche Fitness und muskulöse, männliche Figur vorstellt. Der Mann sieht sogar noch besser aus als früher, sagt sich Marino niedergeschlagen. Wie ist das möglich, wenn man sechs Jahre mehr oder weniger in Einzelhaft verbracht hat? Marino begreift das nicht. Er beißt in einen Schokoladenkeks aus dem Korb von Delicious Desserts of Gainesville, auf den er zufällig im Flug- hafen-Geschenkeshop gestoßen ist, und fragt sich, wie es wohl wäre, wenn er nicht mehr für Lucy arbeiten und die Jagd nach Bösewichtern an den Nagel hängen würde. Verbrecher sind wie Kakerlaken: Wenn man eine zerquetscht, tauchen dafür sofort fünf neue auf. Vielleicht sollte Marino besser angeln gehen, Profi-Bowlingspieler werden (er hatte einmal fast die perfekte Punktzahl) oder sich eine nette Frau suchen und eine Hütte im Wald bauen.
    Einmal, vor langer, langer Zeit, ist auch Marino angehimmelt worden, und der Spiegel war noch nicht sein Feind. Benton wird von Frauen - und sicher auch Männern, wie er verwirrt und angewidert annimmt - immer noch angeglotzt und begehrt, da ist sich Marino ganz sicher. Und wenn zu dem guten Aussehen auch noch seine Intelligenz und der Status als hochrangiger FBI-Agent - oder besser ehemaliger FBI- Agent - hinzukommen, kann ihm sicher niemand mehr widerstehen. Marino schiebt sich graue Haarsträhnen aus der Stirn und hält sich vor Augen, dass keiner Benton mehr kennt und von seiner wahren Identität oder seiner früheren Karriere beim FBI weiß. Er ist entweder tot oder Tom Nobody. Dass Scarpetta Benton so vermisst, löst bei Marino ein schmerzhaftes Stechen irgendwo in der Herzgegend aus und stürzt ihn in noch tiefere Verzweiflung. Er hat großes Mitleid mit ihr. Und auch mit sich selbst. Falls er sterben sollte, würde Scarpetta zwar trauern, allerdings nicht für immer. Sie war noch nie in ihn verliebt, wird es auch nie sein. Für seinen übergewichtigen, behaarten Körper ist kein Platz in ihrem Bett.
    Marino schlendert in einen anderen Geschenke-Shop und nimmt eine Fitnesszeitschrift von einem Stapel auf dem Boden. Sportliche Betätigung ist ihm genauso fremd wie die hebräische Sprache. Auf dem Titelblatt von Fitness für Männer ist ein attraktiver junger Kerl abgebildet, der aussieht, als sei er aus glattem Stein gemeißelt. Offenbar rasiert er sich am ganzen Körper, nur nicht am Kopf, und poliert seine Haut mit Öl. Marino zieht sich wieder in eine nahe gelegene Bar mit Sportübertragung im Fernsehen zurück, bestellt noch ein Budweiser vom Fass, setzt sich an denselben Tisch wie vorhin, wischt Pizzakrümel weg und breitet die Zeitschrift aus. Er hat ein wenig Angst, sie aufzuschlagen. Endlich fasst er sich ein Herz und greift danach. Der Hochglanzeinband bleibt am Tisch kleben.
    »Hey!«, ruft Marino dem Barmann zu. »Werden in diesem Laden denn nie die Tische abgewischt?«
    Alle in der Bar starren Marino an.
    »Ich habe gerade drei fünfzig für ein wässriges Bier bezahlt, und der Tisch ist so dreckig, dass meine Zeitschrift dran kleben bleibt.«
    Alle Gäste in der Bar starren auf seine Zeitschrift. Ein paar junge Männer stoßen einander grinsend an. Der verärgerte Barmann,

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