Die Darwin-Kinder
Kaye rieb sich in einem Reflex die Nase. »Ich muss mir noch einmal die Untersuchungen der kritischen chromosomalen Bereiche von letzter Woche vornehmen.«
»Sind alle präpariert, digitalisiert und in der Fotodatenbank abgespeichert«, erklärte Liz. »Übrigens sind im Kühlschrank noch Reste von Spaghetti.«
»Klingt ja himmlisch.«
»Und tschüss«, rief Liz ihr zu, während die Tür hinter ihr zuschwang.
Kaye stand auf und rieb sich nochmals die Nase, die ihr leicht verstopft vorkam, was ihr aber nicht unangenehm war. Das Labor duftete ungewöhnlich süßlich und frisch – nicht dass es hier je nach Schmutz gerochen hätte. Liz nahm es mit der Sauberkeit sehr genau.
Der Geruch war schwer einzuordnen, er ähnelte weder Parfüm noch Blumendüften.
Vor ihr lag ein langer Arbeitstag, sie musste sich auf die Besprechung am kommenden Morgen vorbereiten. Kaye schloss die Augen und versuchte, ihren inneren Ruhepol zu finden; sie musste sich auf die Ergebnisse der Chromosomenanalyse von letzter Woche konzentrieren. Und den Druck los werden, der ihr seit Washington sauer auf den Magen geschlagen war. Sie zog den Hocker zum Computer herüber, gab ihr Kennwort ein und rief die Tabellen und Fotos ab, auf denen die Mutationen der Chromosomen bei den Schimpansen dokumentiert waren.
Bei den Embryonen im Frühstadium, bei denen sie für Laborzwecke Eingriffe vorgenommen hatten, waren alle nur einfach ausgeprägten ERVs eliminiert worden, während sie die mehrfach ausgeprägten ERVs, LINEs und ,mangelhaften’
ERVs nicht angetastet hatten. Danach hatten sie den Embryonen achtundvierzig Stunden zur Entwicklung gegeben.
Sie hatten die Chromosomen, die sich aufgrund der Zellkernteilung neu gruppiert hatten, entfernt, fotografiert und grob sequenziert. Wonach Kaye suchte, waren Anomalien in kritischen Regionen und an so genannten ,heißen’ Stellen innerhalb der Chromosomen – genomische Bereiche, die als instabil galten und deshalb besonders betroffen sein mussten.
Die modifizierten Chromosomen der Schimpansen waren schwer entstellt, das konnte sie schon nach einem Blick auf die Abbildungen sagen. Die kritischen Stellen waren alle durcheinander geraten, defekt und falsch gruppiert. Keinesfalls hätten sich die Embryonen im Schoß der Mutter einnisten können, vom Austragen ganz zu schweigen. Bei Säugetieren –
und vielleicht in besonderer Weise bei Primaten – waren selbst singuläre ERVs für die Entwicklung des Fötus und die Anpassung der Chromosomen wichtig.
Sie betrachtete die Ergebnisse der Analyse und sah nur eine völlig willkürliche und destruktive Inaktivierung von Genen, die doch eigentlich aktiv hätten transkribieren sollen; lebensnotwendige DNA-Abschnitte, die wie eine Flotte abgetakelter Schiffe nutzlos herumdümpelten, so dass sich das Chromatin zu Knäueln verformte und damit entweder zu fehlgeleiteter Aktivität oder sinnloser Passivität der Gene führte.
Sie sahen hässlich aus, diese Chromosomen, hässlich und unnatürlich. Unter der Ägide solcher Chromosomen konnten die Embryonen dieses Frühstadiums nicht wachsen, würden nie lebensfähig sein. So war es mit allem gewesen, was sie bislang im Labor versucht hatten. Und wenn es doch einmal geschah, dass die Embryonen, bei denen man die ERVs entfernt hatte, es schafften, sich zu implantieren und zu entwickeln, dann wurden sie innerhalb der ersten Wochen unweigerlich resorbiert. Allein um so weit zu kommen, hatten sie den Schimpansenmüttern massiv Medikamente verabreichen müssen – Medikamente, die man in Kliniken, die auf künstliche Befruchtungen spezialisiert waren, für Menschenmütter entwickelt hatte, um Fehlgeburten entgegenzuwirken.
Bei der Entwicklung der Embryonen erfüllten die ERVs viele Aufgaben, einschließlich einer Vermittlerfunktion bei der Differenzierung des Zellgewebes. Und schon jetzt hatte sich herausgestellt, dass die TLV-Hypothese – nach den Annahmen von Temin, Larsson und Villarreal – begründet war. Die hochgradig konserviert von Generation zu Generation überlieferten endogenen Retroviren, die vom Nährgewebe des sich entwickelnden Embryos exprimiert wurden – von dem Teil, der sich zum inneren Kern der schützenden Membranen und der Plazenta entwickeln würde –, unterdrückten Angriffe des mütterlichen Immunsystems. Die Proteinkapseln, die die Viren umhüllten, wirkten bestimmten Reaktionen des mütterlichen Immunsystems auf den Fötus entgegen, ohne dabei die Abwehr von außen einwirkender
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